Das halbe Haus: Roman (German Edition)
mit hölzernem Dach. Leise kleidet er sich an, auf Zehen läuft er über die knarrenden Dielen. Er ist im Begriff, gegen ein Verbot zu verstoßen, aber vom Vater hat er gelernt, dass man sich manchmal über Verbote hinwegsetzen muss. Vom Vater hat er gelernt, dass man Lügner belügen darf und sogar muss. Alles hier, hat sein Vater gesagt, sei eine einzige große Lüge, ein Turm zu Babel, ein Scheißhaufen, der mit Häkeldeckchen aus Worten zugedeckt sei. Er, der Junge, solle sich das merken und es für sich behalten.
In der Nacht gab es Streit. Der Vater hat gerufen, die Großmutter solle bloß aufhören mit ihrer Feigheit und Hörigkeit, während die Großmutter gesagt hat, dass es nicht rechtens sei, den Jungen da mit hineinzuziehen, der Vater denke nur an sich. Blödsinn, es sei doch nur ein Ausflug, es könne doch gar nichts passieren, hat der Vater gesagt. Und außerdem solle die Großmutter zusehen, dass sie ihre Sache endlich geregelt bekomme, dann müsse er auch nicht so was anstellen. Es sei nicht ihre Sache, hat die Großmutter geantwortet. Seinetwegen, um des Vaters willen, mache sie all das. Sie für ihren Teil könne gut und gerne hier leben, hier und jetzt. Der Junge hat im Versteck gesessen und gelauscht, bis der Kater meinte, dass es nun höchste Zeit zum Schlafen sei.
Nun, am Morgen darauf, liegt der Kater auf dem Bett und sieht einem zukünftigen Olympiasieger dabei zu, wie der ein weißes Trikot mit gelb-blauem Bruststreifen in den Beutel packt. Es sind die Farben der Stadt und der Verkehrsbetriebe, für deren Sportverein der Junge startet. Er packt die blaue Hose ein, den Trainingsanzug und die Rennschuhe mit den Spikes. Die Treppe beantwortet jeden seiner Tritte, das Glas der Küchentür klirrt. Drei Stunden vor dem Wettkampf soll man essen, später nicht. Aus dem brummenden Kühlschrank holt er ein Glas mit Würsten und eine Flasche Milch. Mit dem Daumen drückt er den Aluminiumdeckel ein. Während er trinkt und kaut, rinnt ihm etwas Milch übers Kinn. Er schnappt seine Siebensachen und verlässt das Haus. Die Luft ist kühl und warm zugleich. Er durchquert den Vorgarten, öffnet die Pforte, die leise scheppert, und als er sie schließt, scheppert der Briefkasten, auf dem zwei Namen stehen: der Großmuttername und der Vatername. Sonntags gibt es keine Zeitung, die den Vater aufregt, keine Briefe, die ihn zum Verstummen bringen, keine Vorladungen, sonntags ist es gut. Vor dem Gartenzaun steht eine Birke, deren Kätzchen im Frühjahr auf den Fußweg fallen. Die Großmutter nennt den Fußweg Trottoir oder Bürgersteig, beides muss man fegen.
Manchmal schreibt sich der Junge Worte auf den Handrücken. Merkworte. Manchmal einfach nur seinen Namen. Als er lesen lernte, beschriftete die Großmutter alle Gegenstände im Haus: Stuhl, Spiegel, Fernseher, Anrichte. Sie schrieb Zettel und verteilte sie überall, damit sich der Junge die Worte besser und rascher einprägte. Es gab keinen Raum in dem halben Haus, in dem nicht irgendwo Zettel klebten: Spülkasten, Nähmaschine, Rumtopf. Weiße Vierecke, mit blauem Kugelschreiber beschrieben, in schwer leserlicher Schrift (über jedem U ein Kringel), mit Klebestreifen an die Dinge geheftet. Wenn er in den Keller ging, dann las er Fallrohr, Kohlenkeller, Weckglas, Waschzuber. Alles Worte, die nicht in der Fibel für Erstklässer standen, darin standen Ball, Hund und Sonne, das gab es. In sein erstes Schreibheft sollte er schreiben, was es nicht gab: Der Opa ist Bauer, Der Vater ist Arbeiter, Die Mutter ist Lehrerin. Er wendete das Ausrufezeichen an, zu Hause brauchte er das Fragezeichen. Fix lernte er die Großmutterworte, weil er wollte, dass der Spuk bald ein Ende hatte. Was ihn am meisten wurmte: Die Großmutter kannte all seine Wege, sie konnte seine Gedanken lesen. Es gab einen Zettel, auf dem stand lang, schwierig und beschämend: Jakobs Schokoladenversteck. Dem Vater war das alles zu viel. Er fragte, wann denn der Kater seinen Zettel abbekäme und ob er sich selbst einen mit der Aufschrift Vater an die Stirn heften solle. Die Großmutter sagte, das sei gar keine schlechte Idee, aber bitte spiegelverkehrt, damit er es gelegentlich vor Augen habe, etwa beim Rasieren. Obendrein: Er habe so lesen gelernt, seine Brüder hätten so lesen gelernt, und auch ihr Enkelsohn werde so lesen lernen.
Gegenüber, auf der anderen Seite der Ausfallstraße, befindet sich die Großwiese, eine tiefe Weide, die mit Maulwurfshügeln, getrockneten Kuhfladen, Sauerampfer und
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