Das halbe Haus: Roman (German Edition)
galoppierende Unrast, die vielleicht vom Laufen kommt. Mit pochendem Herzen steht er auf dem Schuttberg. Ein Wind fasst in sein Haar, geht über das struppige Plateau, zupft an seinem Hemd und haucht seine Stirn an. Irgendetwas hat er vergessen. Irgendetwas hat er nicht erledigt. Irgendetwas nicht bedacht, gefunden oder eingepackt.
Plötzlich weiß er, dass er das alles hier vergessen und verlieren wird, schon jetzt hat er es verloren. Er wird ein anderer Mensch werden, er wird nach Ceylon oder Sri Lanka reisen, er wird auf ein Gymnasium gehen, sich fremden Menschen anschließen und die Welt mit anderen Augen sehen. Sein früheres Leben in einem halben Haus, in einem halben Land wird ein Schweigen oder ein Witz sein, seinen alten Freunden wird er viele, weniger und gar keine Poster mehr schicken, er wird eine neue Mundart einstudieren, nicht mehr die Hand reichen zur Begrüßung, er wird Französisch lernen und echtes Englisch, er wird nicht mehr gaupeln, sondern tauschen sagen, und es wird sich um einen völlig anderen Vorgang handeln. Er wird frittierten Tintenfisch statt Brathering essen, er wird Klavier spielen statt nur Schifferklavier, Tennis statt nur Tischtennis. Leute, er wird die Welt sehen, den Westen, der so schön ist! Und nie mehr Leo, seinen Weg oder das Grab seiner Mutter. Und genau das ist es, was er vergessen hat: das Grab seiner Mutter.
Er dürfte hier überhaupt nicht wegfahren, keinesfalls abhauen und die Biege machen! Denn wer soll sich jetzt um das Grab der Mutter kümmern? Wer soll den Stein waschen, die Hecke schneiden, das Unkraut jäten, die Kerze anzünden, vor dem ersten Frost das kleine Rechteck mit Tannengrün abdecken und danach andächtig davor herumstehen? Wer soll das tun, wenn nicht er? Seine Großmutter und sein Vater sind schon drüben, und selbst Leo, die sich in dem Wegenetz sicher verirren würde, ist verschwunden und mit ihr Amon. Aber mal ehrlich: Als ob er sich je von alleine um das Grab gekümmert hätte. Als ob er je gern und ohne Aufforderung auf den Friedhof gegangen wäre. Kein einziges Mal war er dort, seit sein Vater nach Sri Lanka oder Ceylon abgehauen ist. Und hat er Edelgard und Marion kondoliert? Nein. Hat er mehr als ein jämmerliches Lattenkreuz für Theo aufgestellt, hat er je wirklich nach Leo gesucht oder Falk nach seiner Schwester gefragt? Dreimal nein. War er freundlich zu Kerstin oder ihrem Vater, hat er sich bei Siegmar bedankt, und hat er Eva auch nur ein winziges bisschen von ihrer Last abgenommen? Nein. Stattdessen hat er sich im Ferienlager vergnügt, ist ins Kino gegangen und hat sich gehen lassen. Es ist doch so: Er hat und wird sich nicht kümmern, so einer ist er. Er ist der Esel, der sich immer zuerst nennt, ein verwöhntes Einzelkind, ein Faulpelz, ein Hans Guckindieluft. Obwohl er in Liebe und mit gründlich gesalbtem Hintern geboren wurde, ist er verdorben, verbohrt und ohne jedes Mitgefühl.
»Du bist das Beste, was mir je begegnet ist«, hat Leo gesagt, als das Lied zu Ende war. – »Ich bin das Schlechteste«, hat er geantwortet. – »So ein Blech«, hat sie gesagt. Er denkt, dass nicht sie, sondern er recht hat. Denn das Vergessen wartet schon auf ihn. Er wird sie alle vergessen, so wie er seine Mutter vergessen hat. Vergeblich wird der Pfarrer auf ihn warten, am Taufstein in zwei Wochen. Er wird ein neues Leben in Saus und Braus führen, während das Grab verwildert und seine Leute immerzu entgraten und auf dem Strich feilen müssen.
Nachdem das Gummiband auf seine Augen gekracht ist, beim Hoch-Weitsprung, hat er sich schreiend auf der Matte gewälzt. Alle kamen angerannt, er hörte ihre Stimmen. »Warum tut das denn so scheißweh?«, hat er geschrien, und der Trainer hat ihn zu seinem Auto getragen und in die Poliklinik gefahren. Gleich wird er ihn abholen und im Zug bis zur Grenze begleiten – parkt da unten nicht schon sein Wagen? Er wird sich das Parteiabzeichen ans Revers seines Blousons stecken und sagen, dass er es nur für Zwecke wie diesen habe. Sie werden über die Olympischen Spiele plaudern, die seit drei Tagen vorbei sind. Die Schluss- und die Eröffnungsfeier hat Disney inszeniert, vom Himmel schwebte der goldene Reiter. Coca-Cola, McDonald’s und American Airlines haben die Spiele bezahlt. Carl Lewis hat vier Goldmedaillen gewonnen, der Trainer wird sagen, dass man bei den Nahaufnahmen seine Dopingakne sehen konnte. Auch Michael Groß, der Albatros, hatte schlechte Haut. Die Westdeutschen sind Dritte im
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