Das halbe Haus: Roman (German Edition)
struppigem Gras bedeckt ist. Ein Abhang führt hinunter, der sich gut zum Schanzenbau eignet. Alle wollen Skiflieger sein und probieren den Telemark. Leider gibt es kaum Auslauf, wenn man den Hüpfer gestanden hat, ist da auch schon das Flüsschen, das die Weide ungerecht teilt. In der warmen Jahreszeit schwimmen Kaulquappen und Stichlinge mit weißen Bläschen an den Kiemen darin. In der warmen Jahreszeit liegt der Junge im stechenden Gras, kaut Sauerampfer und beobachtet, wie hoch oben am Himmel die Kondensstreifen ausflocken. Er sucht einen Namen für das Blau, das hinter dem Licht liegt. Ab und zu spielt er Sterben. Dann sieht er sich von außen und von innen. Er ist zwei: einer, der beobachtet, und einer, der beobachtet wird. Weit hinten, am Ende der Großwiese, erhebt sich ein Tafelberg, aufgeschüttet aus den Trümmern des Weltkrieges. Ölige Erde, Gestrüpp, Disteln, Moos und Hecken überziehen den Berg. Kaninchen zucken durch das Unterholz, Rebhühner flattern auf, Füchse und halbwilde Katzen ducken sich in die Mulden, und manchmal sitzt auf einem Schlackeberg ein Fasan, grün, mit leuchtend rotem Reif um den Hals und gelbem Schnabel. Leicht kann man straucheln und sackt in eine Kuhle, auf deren Grund glasierte Ofenkacheln liegen, Flaschengrün und Bernstein. Bleirohre und Eisengeflecht ragen aus dem Boden, schimmelndes Holz, rostige Schnallen und Bänder. Der Berg riecht nach Petrol und Fäulnis. Als der Vater selbst noch ein Junge war, hat er dort Stahlhelme, Ehrendolche und sogar eine Pistole gefunden. Heutzutage rollt ab und zu ein Laster über die Panzerplatten und kippt seine Ladung an den Hang. Der Junge und seine Freunde finden dann bunte Glaslinsen, Röntgenfotos von gebrochenen Rippen, Schädeln und Herzen, große Spritzen aus Plaste, Infusionsbeutel mit getrocknetem Blut, verklebte Kanülen, Kanister und Dosen mit Pechnasen.
Von ganz oben kann man weit in alle Himmelsrichtungen sehen, auf die Stadt und auf das Land. Das Land ist eine große Senke, durchschnitten von langen Straßen. Es gibt keine echten Erhebungen, nur Halden und Hügel, keine Täler, sondern Gruben, keine Ströme, dafür Bäche und Flüsse, auf deren schwarzen Wassern heller Schaum treibt. Es gibt Rieselfelder, über denen Stromleitungen summen, am Horizont ragen Schlote von Kraftwerken und Brikettfabriken auf. Die Ortschaften ringsum enden auf -witz, -ig, -itz oder -itzsch. An der Kreuzung zweier aus dem Nichts kommender Straßen liegt die Klappse, die Rassel, die Irrenanstalt. Richtung Norden liegen das Stadion, das Kriegerdenkmal, der weitläufige Friedhof, das Messegelände und ein Stadtteil, der auf -itz endet. Im Süden ist das Land aufgebrochen. Leere Dörfer stehen am Abgrund, in den Kratern tragen riesige Schaufelräder die Braunkohle ab. Nachts hört man ihr Ächzen und Kreischen. Es ist das Schlaflied des Jungen.
Er geht die Ausfallstraße entlang, Richtung Haltestelle. Die Straße ist gerade und führt an allem vorbei, was der Junge kennt, weiß und besitzt. Die Straße, die den Namen des Flüsschens trägt, ist die Hauptstraße seines Reiches. Er lässt die Garagenreihen links liegen, geht an der alten Eiche vorbei, die eine schwarze Eule auf gelbem Grund bewacht, geht vorbei am Gartenbauverein mit dem Schlittschuhteich, wenn der zufriert, sind die langen Finger der Trauerweide im Eis gefangen. Genau achtet er darauf, dass er mit jedem Schritt die Rechtecke der Gehwegplatten trifft. Auf keinen Fall darf sein Fuß die Fuge zwischen zwei Platten auch nur berühren, dann wäre alles ruiniert, wirklich alles.
Die Vorstadt dämmert, während die eigentliche Stadt von damals träumt. Es ist eine stolze und alte Stadt mit hohen Kirchen und lichten Passagen und einem imposanten Bahnhof, da kann man besser ankommen als wegfahren. Die Stadt hat große Söhne und Töchter hervorgebracht und bedeutsame Menschen beherbergt, es wird ihm immer wieder gesagt, von den Lehrern, den Übungsleitern, den Verkäufern, den Aufpassern im Museum und im Zoo. Auch die Kunst, ein Buch zu drucken, wird hier gepflegt wie nirgendwo, nicht zu vergessen die Musik und die Malerei. Und Sportstadt will die Stadt auch genannt werden. Im Heimatkundeunterricht hat der Junge gelernt, dass sie am Schnittpunkt zweier alter Handelsrouten liegt. Seit jeher werden hier Geschäfte gemacht, zu Ostern und zu Michaelis. Mit eigenen Augen sieht er zur Messezeit die bunten Werbebanner – Keramik und Miederwaren – und die fremden Autos. Alles Halb- und alles
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