Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Röcken, sie fangen ihre Hände im Schoß auf. Eichhörnchen jagen sich über ihren Köpfen. Es gibt Gräber mit hölzernem und Gräber mit Eisernem Kreuz. Als er noch nicht zur Schule ging, fürchtete der Junge, die Toten könnten durch die Stachel der Steckvasen aufgeweckt werden. Dann wäre plötzlich Großmutters letzter Mann wieder am Leben, und da wäre vielleicht was los, Zeter und Mordio, sagt der Vater.
Am Anfang der Ausfallstraße befindet sich die Schule. Ein Ozeandampfer aus Backstein ist das, darin riecht es nach Graupensuppe, Bohnerwachs und Ammoniak. Das schmale Ende des Gebäudes ist verputzt, und auf der Fassade kann ein großes Wandbild bestaunt werden, es trägt den Titel Lebensfreude und zeigt Pioniere, Arbeiter, Mähdrescher, Soldaten. Alle lachen, selbst die Mähdrescher. Der Junge wurde letztes Jahr Thälmannpionier, aber danach ist Schluss, sagt sein Vater. Keine FDJ . Im Winter liegt ein Schatten auf der Sonnenuhr und ein hoher Kohlenberg im Schulhof, wenn der verheizt ist, gibt es kältefrei. Wie Bänder fallen die Schlitterbahnen über den kleinen Hügel vor dem Eingang. Auf dem Platz wird morgen der Fahnenappell stattfinden. Im Geviert werden sich die Schüler aufstellen. Zum Weltfriedenstag werden sie ihre feste Solidarität mit allen friedliebenden Menschen bekräftigen. Den Pionierauftrag werden sie mit fleißigem Lernen und guten Taten zu erfüllen trachten. Mit ihrem Namen werden sie dafür einstehen. Die hübsche Deutschlehrerin wird ein kämpferisches Lied auf ihrer Gitarre begleiten. Sie wird ein Blauhemd tragen und einen kurzen Rock. Ihre Beine sind sehenswert. Insgeheim weiß sie, dass gute Kopfnoten kein gutes Leben garantieren. Der Erdkundelehrer kennt Albanien nicht aus eigener Anschauung, aber aus den Erzählungen seines Sohnes, eines Ingenieurs auf Montage. Er schlussfolgert, dass ein Land, in dem die Frauen einen Einkaufsbeutel mit Guckloch auf dem Kopf tragen, nicht sozialistisch sein kann. Der Lehrer für Biologie ist gut gekämmt. Er unterrichtet auch Englisch, fakultativ und nachmittags. Wenn der Vati mal eine Dienstreise macht, etwa nach London oder Birmingham, soll er doch bitte einen Stadtplan für ihn, den Lehrer, mitbringen. Er selber komme ja da nicht hin. Früher sei er bis nach Griechenland gelangt. Da seien seine Haare und übrigens auch die Augenbrauen weiß geworden in der Sonne. Das UV -Licht habe die Pigmente völlig zerstört, er habe wie ein Albino ausgesehen, und braun sei er gewesen wie nie mehr sonst. Als der Junge fragt, wann denn der Lehrer für Biologie und Englisch in Griechenland gewesen sei, sagt der: Damals, mit der Armee. – Mit welcher Armee? – Mit der deutschen Armee. – Mit der Hitlerarmee? – Pigmente kommen später dran.
Eine griechische Nase hat der Vater des Jungen. Er hat ein texanisches Kinn, römische Locken, germanische Schultern, nordische Augen: ein Bild von einem Mann. Hat’s nicht leicht gehabt. Jetzt geht’s wieder. Ist aber was hängen geblieben. Sagen die Frauen. Manchmal rutscht ihm die Hand aus, dann ist die Hand schuld. Nächtelang liest er dicke Bücher. Er spielt Gitarre, how does it feel, und wenn eine Freundin zu Besuch kommt, zündet er Kerzen an und musiziert. Er musiziert oft. Jedes Wochenende stutzt er seinen Schnurrbart mit der kleinen Krummschere, mit der er dem Jungen danach die Nägel schneidet: schmutzige Halbmonde im Badewasser. Die Schere stammt aus dem Necessaire seiner Frau, der Mutter des Jungen. Necessaire ist eins von den lustigen Worten, die der Junge notiert. Auch seine Großmutter schenkt ihm Worte für seine Sammlung (Arschkratzel, Bibanella). Sie hält das halbe Haus in Ordnung, die Wäsche, das Essen, die Gefühle, sie sagt, was man tun muss, wenn jemand krank ist oder ein Kind Konfirmation feiert, sie schreibt Postkarten und gibt Setzlinge weiter im Frühjahr. Sie erwärmt die Milch auf dem Ofen. Ihre Zärtlichkeit ist ein Löffel Honig darin, ein angenähter Knopf, ein nachgezogener Scheitel. Sie sagt nie: Für heute lass es gut sein, was schlägt dir aufs Gemüt, alles halb so schwer. Das wird ein Junge von ihr nicht zu hören bekommen. Aber sie zieht den Scheitel nach und lässt ihre Hand, trocken und kühl, kurz auf dem Kopf liegen. Wenn der Junge von der Schule heimkehrt, Kreide an den Fingern, Schweiß auf der Stirn und ein Loch im Bauch, wartet ein Topf gekochter Kartoffeln im Daunenbett, warm gehalten von Topflappen und Zeitungspapier. Seit Jahr und Tag markiert sie am
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