Das Haus am Nonnengraben
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Über einen Abgrund führte ein kleiner Steg von der Rampe der Nonnenbrücke hinüber zum Haus am Nonnengraben. Das Fenster in der Haustür am Ende des Stegs wurde von einem auffallend schönen Gitter geschützt. Jedes Mal, wenn Hanna hier vorbeigekommen war, hatte sie sich vorgenommen, eines Tages stehen zu bleiben und sich das Gitter näher anzusehen, es ohne konkreten Anlass aber nie getan. Jetzt war der Anlass da.
Hanna Tal war Chefin und einzige Mitarbeiterin ihres Büros für Untersuchungen in der Denkmalpflege. Im Augenblick hatte sie den Auftrag, für das Landesamt für Denkmalpflege ein Kellerkataster der Bamberger Altstadt zu erstellen, eine Aufgabe, die sie mit Leidenschaft erfüllte. Aber einen kleinen Nebenjob konnte sie hin und wieder ganz gut gebrauchen. Deshalb hatte sie ohne langes Zögern zugestimmt, als die Bamberger Zeitung, der Fränkische Tag, sie gebeten hatte, einen Artikel über das verwahrloste Haus am Nonnengraben zu schreiben. Den Anstoß dazu hatte ein Leserbrief gegeben. »Wie kann man in Ihrer wunderschönen und ansonsten so gut sanierten Weltkulturerbestadt nur seit Jahren einen solchen Schandfleck zulassen?«, hatte ein Besucher aus Hamburg geschrieben. Diese Frage hatte eine Menge von Zuschriften ähnlichen Inhalts ausgelöst. Der Fränkische Tag, der um das große Interesse der Bamberger an ihrer Stadt wusste, war bereit, dieser Frage nachzugehen, und hatte Hanna mit einer Recherche über das Haus beauftragt. Das passte hervorragend, denn sie musste es sowieso noch für ihr Kellerkataster bearbeiten.
So stand sie also jetzt an diesem hellen Montagmorgen im September vor dem Haus am Nonnengraben und bewunderte erfreut das Gitter in der Haustür. Dahinter wohnte laut Adressbuch eine Elfi Rothammer, die aber weder auf Hannas Anrufe noch auf ihre Briefe reagiert hatte. Weil die Klingel keinen Ton herausbrachte, versuchte Hanna, durch das Gitter ins Innere zu spähen. Es war an vielen Stellen verrostet und wie das ganze Haus in einem beklagenswerten Zustand, aber die Linien, sanft und kraftvoll zugleich, erzählten davon, dass der Schmied, der sie vor fast zweihundert Jahren geschaffen hatte, mit einer Künstlerseele ausgestattet gewesen war. Hanna empfand eine kleine Zärtlichkeit für diesen vergessenen Mann und fuhr mit dem Zeigefinger die metallenen Kurven des Gitters nach. Da öffnete sich unter dem leichten Druck ihrer Hand lautlos die Tür und lockte Hanna in das Innere des Hauses.
Hinter dem Windfang lag eine Halle, deren einstige Eleganz noch spürbar war. In dem dämmrigen Licht, das durch die Fensterläden fiel, tanzte Staub über breite Eichendielen. Das Schönste war die Treppe, die sich frei durch den leeren Raum zu einer Galerie im ersten Stock schwang. Es war still hier, trotz des Autoverkehrs draußen. Doch die Stille wirkte nicht friedlich, sondern beängstigend. Hanna schaute sich um und versuchte, die Quelle ihres intensiven Unbehagens ausfindig zu machen, bis ihr auffiel: Es war der Geruch. Es roch einfach widerlich.
Plötzlich hörte sie ein leises Wimmern. Ein Kätzchen? Es schien aus dem rückwärtigen Teil des Hauses zu kommen. Hanna durchquerte die Halle und betrat einen Gang, der zum Garten führte. Durch eine bunt verglaste Tür an seinem Ende fiel Licht auf einen gemusterten Terrazzoboden, wie er im 19. Jahrhundert für die Küchen- und Gesindetrakte üblich war. Hinter einer Tür rechts war jetzt wieder das Wimmern zu hören, ein kleiner Ton, der gleich wieder abbrach. Hanna öffnete die Tür und sah vor sich den seltsamsten Raum, den sie je betreten hatte. Es musste sich um die frühere Küche handeln; dafür sprachen die beiden großen Spülbecken und der Herd an der rechten Wand. Ansonsten aber wirkte der Raum wie ein großes Zelt. An allen Wänden entlang waren Schnüre gespannt, an denen Stoffe in den unterschiedlichsten Farben und Materialien hingen. Die Stoffbahnen in den Ecken führten bis in die Mitte des Raums und waren dort am Haken der alten Hängelampe angebunden. Das Ganze wirkte bizarr, aber auch anheimelnd. Zwischen den beiden Ostfenstern saß auf einem Stuhl ein Mädchen mit einem Säugling an der Brust. Kein Kätzchen, ein Kind hatte gemaunzt. Das Licht aus den Fenstern hinter dem Mädchen umstrahlte sie wie ein Glorienschein. Aber es war eine seltsame Madonna, die da saß und ihr Kind säugte: Von den grünen Haaren über den Ring in der Nase bis zu den zerschlissenen Turnschuhen war sie höchst unheilig anzusehen. Sie schaute Hanna
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