Das Haus am stillen See: Mittsommerglück (German Edition)
durchrieselte ihn. Stimmte es tatsächlich? Wusste Stina wirklich nicht, wen sie gerade vor sich hatte? Es war ein schreckliches Gefühl. Patrick konnte sich nicht erinnern, jemals solche Hilflosigkeit empfunden zu haben. Doch noch blieb ihm ein schwacher Lichtstreif am Horizont. Er konnte immer noch hoffen, dass sich alles als grauenvoller Irrtum herausstellte. Alle Zuversicht wich jedoch aus ihm, als Stina zaghaft fragte: “Entschuldigen Sie bitte, aber … kennen wir uns?”
Für Stina waren die folgenden Tage eine einzige Tortur. Bei den ganzen Untersuchungen, die man mit ihr anstellte, fühlte sie sich langsam wie ein Versuchskaninchen. Sie verstand nicht, was das alles überhaupt sollte. Abgesehen von ein paar schmerzhaften Prellungen, die jedoch bereits wieder im Abklingen begriffen waren, fühlte sie sich wirklich wohl.
Dennoch wurde sie das dumpfe Gefühl nicht los, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Bildete sie es sich nur ein, oder warfen die Ärzte, Pfleger und Schwestern ihr immer wieder mitleidige Blicke zu, wenn sie glaubten, dass sie es nicht mitbekam?
Und dann war da dieser Mann mit den strahlend blauen Augen. Er schien einfach überall zu sein. Immer wenn sie ihr Zimmer verließ, war er in der Nähe. Stina hatte inzwischen von einer Schwester erfahren, dass er Patrick Douglas hieß. Mehr war aus ihr jedoch nicht herauszubekommen gewesen. Irgendwie schien es fast, als wolle das Pflegepersonal sie von ihm abschirmen. Aber warum? Sie kannte diesen Mr. Douglas doch gar nicht.
Zugegeben, sein Auftritt an dem Tag, an dem sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie schon ziemlich durcheinandergebracht. Er hatte steif und fest darauf beharrt, sie zu kennen. Das war natürlich völlig absurd. An einen so attraktiven Mann wie ihn könnte sie sich sicherlich erinnern, wenn sie einander schon einmal begegnet wären. Außerdem vergaß sie nie ein Gesicht.
Stina nahm inzwischen an, dass hinter der ganzen Sache eine tragische Geschichte steckte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass Dr. Magnusson sie nach ihrem Erwachen Mrs. Douglas genannt hatte. Soweit sie inzwischen wusste, war sie bei einem Autounfall verletzt worden und deshalb ins Krankenhaus gekommen. An den Unfall selbst konnte sie sich nicht erinnern, aber es war gut möglich, dass dieser Mr. Douglas ihren Wagen im Straßengraben entdeckt und sie gerettet hatte. Vielleicht hatte er ja vor Kurzem seine Frau verloren und beim Eintreffen der Rettungsmannschaften behauptet, sie, Stina, sei mit ihm verheiratet. Vielleicht glaubte dieser arme Mann ja tatsächlich, dass sie seine Ehefrau war.
Das Eintreten von Dr. Magnusson riss Stina aus ihren Grübeleien. “Wie geht es meiner Lieblingspatientin denn heute?”, fragte er gut gelaunt, doch Stina vermutete schon seit einer geraumen Weile, dass seine Fröhlichkeit nur aufgesetzt war. Er verbarg etwas vor ihr. Aber was?
“So weit ganz gut”, erwiderte sie verdrossen. “Ich würde nur gerne wissen, wann ich endlich nach Hause darf. Und warum habe ich eigentlich die ganze Zeit über keinen Besuch bekommen? Hat meine Mutter denn gar nicht nach mir gefragt?”
Dr. Magnusson verzog kaum merklich das Gesicht. Er wirkte plötzlich sehr angespannt. Ein unbehagliches Gefühl stieg in Stina auf. Sie hatte sich also nicht getäuscht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
“Hören Sie, Mrs. Douglas, ich …”
“Was soll das?”, protestierte sie heftig. “Warum nennen Sie mich so? Ich dachte, wir hätten mittlerweile geklärt, dass mein Name Stina Tjörholm ist. Ich kenne diesen Mr. Douglas nicht, und ich bin gewiss auch nicht mit ihm verheiratet!”
Als Magnusson seufzte, überlief Stina ein eisiger Schauer. “Genau darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Wissen Sie, ich habe angenommen, dass Ihr Zustand nur temporärer Natur sei, doch wie es aussieht, habe ich mich getäuscht. Sie erinnern sich noch immer nicht, oder?”
“Erinnern?”, wiederholte sie vorsichtig. Worauf wollte Dr. Magnusson hinaus? “Woran sollte ich mich denn Ihrer Meinung nach erinnern?”
“Ich habe Ihnen ja bereits erklärt, dass Sie einen schlimmen Autounfall hatten. Ihre Verletzungen wirkten auf den ersten Blick relativ harmlos. Besorgniserregend erschien uns jedoch, dass Sie einfach nicht aus der Bewusstlosigkeit erwachen wollten.” Er atmete tief durch. “Sie können sich sicher vorstellen, wie erleichtert wir alle waren, als Sie endlich wieder zu sich kamen. Aber dann …”
“Ja? Was dann?”
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