Der Architekt
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Teil I
1
Der junge Mann war außer sich. Ich hatte von meinem Schreibtisch aufgesehen, weil mir der ungewöhnlich laute Wortwechsel im Vorzimmer aufgefallen war, und konnte ihn durch die halb angelehnte Tür meines Arbeitszimmers hindurch sehen. Sein Haar war schon länger nicht mehr geschnitten worden und hing, ja, klebte ihm geradezu im Gesicht. Meine Sekretärin, Frau Belting, von der ich wusste, dass sie stets besonnen und klug handelte, wollte ihn erst gar nicht durchlassen. An seine Worte erinnere ich mich nicht mehr genau, aber es war so etwas wie: »Sie können mich nicht hindern, das ist doch albern, wollen Sie, dass ich Ihnen …« Ja, ich glaube, er schrie tatsächlich, mit einer Stimme, die sich beinahe überschlug: »… wollen Sie, dass ich Ihnen den Arm breche!« Entsetzt sprang ich auf und war mit drei Schritten an der Tür zum Vorzimmer.
Ich hatte den Eindruck, seine Augen flackerten ein wenig, als er mir den Blick zuwandte. In der rechten Hand hielt er ein in hellbraunes Packpapier eingeschlagenes Paket, den linken Arm hatte er abgespreizt und angewinkelt. Aus dieser Haltung heraus konnte er Frau Belting, einer eher zierlichen Frau, mit dem Ellbogen jederzeit einen heftigen Schlag versetzen.
»Was fällt Ihnen ein?« Meine Stimme flog mehr in die Höhe, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte, aber der Anblick des Eindringlings, an dessen Leib jeder Muskel angespannt zu sein schien, hatte mich erheblich aufgeregt. Außerdem war mir bewusst, dass ich ganz und gar nicht gerüstet war, eine handgreifliche Attacke abzuwehren, sollte er sich plötzlich dazu entschließen, sich auf mich zu stürzen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie denn?«
Frau Belting ging einen Schritt zur Seite, verließ die Verteidigungsposition, die sie unwillkürlich eingenommen hatte, und machte ihm den Weg frei.
»Hier.« Er kam auf mich zu und streckte mir das Paket entgegen. »Lesen Sie. Morgen früh komme ich wieder. Ich muss mit Ihnen sprechen!«
Verdutzt ließ ich mir das Paket in die Hand drücken. Tatsächlich schien das jedoch alles gewesen zu sein, was er auf dem Herzen gehabt hatte, denn kaum hatte ich den Packen an mich genommen, sackte der Mann ein Stückchen zusammen, senkte den Kopf und zog sich rückwärts Richtung Eingangstür zurück. Kurz vor der Tür fuhr er herum, griff nach der Klinke und stieß einen heiseren Laut zwischen den Zähnen hervor. Offenbar hatte er den Mechanismus des Schlosses, das man per Knopfdruck öffnen musste, nicht auf Anhieb verstanden. Schon fürchtete ich, er würde versuchen, mit einem Hieb seines Schädels die Tür aufzuschmettern, als das Schloss mit einem harten Klicken doch noch zurücksprang, er die Tür aufriss und mit großen Sätzen ins Treppenhaus stürzte.
Er hätte den Fahrstuhl nehmen können, der im Zentrum des Treppenhausschachtes eingebaut war, aber wir hörten, wie seine Schuhe mit einem beunruhigend hastigen, fast unsicheren Getrappel über die steinernen Stufen huschten, bis die Haustür unten im Erdgeschoss aufflog und wenig später sanft zurück ins Schloss klickte.
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich in den Besprechungsraum eilen sollte, um aus dem Fenster heraus zu beobachten, wohin unser seltsamer Besucher verschwinden würde.
Doch dann fiel mein Blick auf das Paket in meiner Hand. Er hatte gesagt, dass er morgen früh wiederkommen werde. Sollte ich mich nicht an die Behörden wenden und den Vorfall so rasch wie möglich melden? Irgendetwas ließ mich zögern. Ich wusste, dass Frau Belting unbedingt dafür plädiert hätte, deshalb sah ich auch gar nicht erst zu ihr hin.
Heute glaube ich, dass es etwas im Blick, in der Erscheinung des jungen Mannes gewesen sein muss, das mich davon abgehalten hat, umgehend die Polizei einzuschalten. Er hatte zwar ungestüm, ja beinahe besessen gewirkt, zugleich aber hatte ich auch eine Art Verletztheit, Verletzbarkeit an ihm wahrzunehmen geglaubt, die in mir den Wunsch ausgelöst hatte, erst einen Blick in das Paket zu werfen, bevor ich weitere Schritte unternehmen würde.
»Geht es Ihnen gut? Hat er Ihnen weh getan?« Jetzt schaute ich doch zu Frau Belting, die ein wenig weiß um die Nase herum wirkte.
»Nein … es … ist nur der Schrecken«, stammelte sie.
»Gehen Sie ruhig nach Hause, ich komme für den Rest des Tages auch allein klar.« Ich hatte wenig Lust, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich ihr erklären sollte, dass ich nicht gleich die Behörden informierte. »Es ist ja
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