Das Haus der bösen Mädchen: Roman
strich ihr über den Kopf und sagte sehr leise: »Ich soll also in deiner Schuld stehen. Hmhm, sehr vernünftig von dir. Ich wusste immer, dass du ein kluges Mädchen bist.«
Ein Wachmann schaute zur Tür herein und sagte leise: »Es ist Zeit. Der Flug geht in einer Stunde.«
»Willst du nicht auf Pjotr warten?«, fragte Warja.
»Ich muss zu meiner Schwester nach Woronesh, ich will sie zu mir holen. Und Pjotr – wozu sollte ich noch auf ihn warten?« Pnyrja stand auf und reckte sich mit knackenden Gelenken. »Er wird nicht hier ankommen, Warja. Das sagt mir mein Gefühl, er wird nicht ankommen.«
Ira hatte die Hände hinterm Kopf verschränkt und starrte ins Dunkel. Sweta schlief zusammengerollt. Sie hatten kein Zeitgefühl mehr. Sie trugen keine Uhr, und der Keller war fensterlos. Ira wusste nur eines: Man würde sie nicht hier umbringen. Vermutlich würde man sie in der Nacht an denStadtrand schaffen, in einen Wald, und dort töten und verscharren. Je mehr sie nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es dazu keine Alternative gab.
Sie hatte es schon viel früher begriffen, nämlich als Ruslan sie für die Schlüssel mit dem Schmuck bezahlte, den er aus den Ohren von Ljussjas Tante gezogen hatte. Sie hatte es begriffen, aber nicht wahrhaben wollen. Dabei hatte er ihnen damit eine letzte Chance gegeben, einen Fingerzeig. Das heißt, nicht er, sondern Ljussjas Tante Lilja – sie hatte sie quasi aus dem Jenseits gewarnt: Haut ab, hier erwartet euch ein schlimmes Ende. Sie hätten nur mit den Ohrringen zur Miliz gehen müssen. Gruppensex im Keller, auf einer Altardecke und unter einem umgedrehten Kreuz war das eine, aber Mord – das war hundertmal schlimmer.
Ira wusste, dass Lilja Kolomejez im Mai eine Diskothek beobachtet hatte. Ein Wachmann hatte sie entdeckt, als sie auf dem Boden vor dem Kellerfenster lag, und sie mit einem Schlag betäubt; anschließend hatte Mama Isa die Sache auf ihre gewohnte Art gedeichselt. Aber Lilja glaubte nicht, dass sie nur einen Albtraum gehabt hatte. Eines Tages fing sie die Zwillinge am Teich ab und stellte ihnen eine Menge Fragen, redete ihnen zu, keine Angst zu haben und die Wahrheit zu sagen. Sie schauten sie mit großen Augen an und stritten alles ab. Dann hatte sie sich Larissa vorgenommen, und die war natürlich gleich zu Mama Isa gerannt.
Ira und Sweta sollten um jeden Preis die Videokassetten beschaffen, die Oleg Solodkin aufgenommen hatte. Es war nichts Verdächtiges drauf, aber Mama Isa war echt in Panik geraten. Dann hatte Ruslan sie am Teich angesprochen und ihnen Geld angeboten, wenn sie auch die Schlüssel zu Solodkins Stadtwohnung besorgten. Fünfhundert Dollar wollte er ihnen dafür zahlen.
Doch als er ihnen anstelle des Geldes die Ohrringe gab, wusste Ira, dass Lilja tot war. Sie bekam echte, ernsthafte Angst. Die sie weder sich selbst noch ihrer Schwester eingestehenwollte. Sie gab sich munter und stritt mit Sweta um eine Tafel Schokolade, ob Ruslan wirklich zwischen den Wollknäueln herumgewühlt und die Schätze gesucht hatte, von denen Ljussja ganz im Vertrauen jedem im Heim erzählte. »So blöd ist er nicht«, behauptete Sweta, »ist doch klar, dass Ljussja sich das mit den Schätzen bloß ausgedacht hat. Sie ist verliebt in Ruslan, und er soll sie für eine reiche Braut halten.«
Sie lachten beide. Je lauter sie lachten, desto leiser schluchzte tief in Ira eine klägliche, widerliche Stimme: »Ich hab Angst. Wir müssen zur Miliz gehen und Ruslan anzeigen. Er ist ein gefährlicher Sadist, und Mama Isa ist genauso, wir müssen zur Miliz, bevor es zu spät ist!«
Doch was erwartete sie, wenn das Heim geschlossen wurde? Armut? Der Strich? Im Heim hatten sie satt zu essen, was Anständiges anzuziehen und eine gewisse, wenn auch vage Perspektive. Kriminelle in schicken Autos kamen sie besuchen, Pjotr mit seinem Gefolge, und sie beide, zwei so hübsche Mädchen, mussten sich bestimmt keine Sorgen um ihr Auskommen machen. Das hatte man ihnen versprochen.
Und dann hatten die Jungs ihnen überraschend die erfreuliche Gelegenheit geboten, schnell Geld zu verdienen. Wer hätte schon auf dreitausend Dollar verzichtet? Zu einer festgesetzten Zeit in eine schicke Boutique gehen und dort in der Umkleidekabine eine Tasche stehenlassen – das war schließlich nicht weiter schwer. Warum waren sie so blöd und hatten nicht gleich kapiert, dass Pjotr ihnen nie im Leben dreitausend Dollar geben würde? Das würde er einfach nicht tun, niemals.
Ira sprang auf,
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