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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ERSTES KAPITEL
Mitja
    Mitja las die Liste, die ihm die Leiterin des Kreisschulamtes auf den Tisch geknallt hatte, und mit jeder Zeile fühlte er sich schlechter. Iudino, Kulebjakino, Kurojedowo, Pustoje Roshdestwo … Die Namen der Dörfer, in denen ein Geschichtslehrer gesucht wurde, kamen ihm wie böse Omen vor.
    Obwohl – was war denn so schlimm an einer Kulebjaka, einer Pastete? Doch Mitja stellte sich sofort eine schreckliche, vom Essen besessene Welt vor: fleischige Gesichter, ölige Augen, zischende Pfannen. Und er erinnerte sich an einen entsetzlichen Alptraum aus seiner Schulzeit: Der Sitzenbleiber Waganow antwortet auf die Frage: »Waganow, wozu hast du deinen Kopf?!« mit seinem immer gleichen breiten Lächeln: »Zum Fressen!«
    »Vielleicht Marjino?«, krächzte Mitja mit ausgetrockneter Kehle.
    »Soll das ein Witz sein?!«, donnerte die Natschalniza, und ihr Goldzahn blitzte. »Von da ist sogar San Sanytsch abgehauen!«
    »Welcher Sansan?«, fragte Mitja. »Samson?«
    »Tjutikow. Er hat bei den OMON -Truppen gedient.«
    Mitja wollte sich schon verabschieden und wieder nach Moskau zurückfahren. In dem Moment stieg wie Sodbrennen ein bis zum Erbrechen bekanntes Bild in ihm auf. Er läuft die vollgespuckte Treppe hinauf, die langen Flure entlang, wo gelangweilte Mädchen mit ihrer Maniküre prahlen, er betritt das Institut und hört, wie die alternden Spezialistinnen für die Russkaja prawda in seinem Rücken tuscheln. Dann das tote Geraschel in der Universitätsbibliothek, die ineinander verschwimmenden ismen in einem dicken Wälzer. Und die quälende, nicht zu beantwortende Frage: »Wer braucht das alles?«
    »Na schön.« Mitja räusperte sich. »Und was raten Sie mir?«
    »Was ich Ihnen rate?!« Die Natschalniza jaulte auf, als sei in ihrem alten Sessel eine Sprungfeder gebrochen. »Nichts wie weg hier! Wer will sich denn freiwillig begraben lassen? Na schön, wir – aber wir sind hier geboren. Da kann man nichts machen. Aber solche wie Sie, ich frage mich, was wollen die hier?«
    »Ich bin auch hier geboren.«
    »Erzählen Sie mir doch nichts! Geburtsort – Moskau!« Sie hielt Mitja seinen Ausweis unter die Nase.
    »Naja«, Mitja bewegte unbestimmt die Hand, »ich meine, hier in Russland.« Er schämte sich schrecklich.
    »Ojeojeoje«, jammerte die Natschalniza wie eine einfache Frau vom Lande. »Ihr brütet in den Hauptstädten lauter idealistisches Zeug aus, und dann kommt ihr angeschwirrt und wollt die Heimat retten.«
    »Nein, nein, nein! Nicht doch! Es geht nicht ums Retten! Nur …«
    »Ihr habt ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wenn der Esel überschnappt, läuft er Rollschuh! Aber bitte, fahren Sie, schnuppern Sie unseren Stallmist. Das wird Ihnen die Flausen rasch austreiben. Was sitzen Sie noch hier? Die Audienz ist beendet!«
    »Wohin soll ich denn nun?«
    »Wohin du willst. Ein Papier stelle ich dir gar nicht erst aus. Du haust sowieso nach einer Woche wieder ab.«
    Mitja lief hinaus auf die Straße, schäumend vor Ärger.
    »Dein Ausweis! Du hast deinen Ausweis vergessen! Schwachkopf!«, rief die Natschalniza aus einem Fenster.
     
    An der Bushaltestelle ging Mitja zum Kiosk, um sich zum Trost etwas Süßes zu kaufen. Über dem winzigen Fensterchen flatterte eine handgeschriebene Nachricht:
     
    Der Wettbewerb der zerknitterten Zehnrubelscheine ist beendet!
     
    Lange und ergebnislos studierte Mitja die von Fliegen okkupierten Schokoriegel in ausgeblichenen Verpackungen, immer heftiger gepeinigt von seiner Unfähigkeit, auch nur die geringste Entscheidung zu treffen. Schließlich fiel seine Wahl auf Snickers, er reichte hundert Rubel durch das Fenster und bat heiser:
    »Ein Mars bitte.«
    »Ich kann nicht wechseln«, verkündete die Verkäuferin, ohne sich zu ihm umzudrehen.
    Wenn das Ganze so schlecht anläuft, dachte Mitja trübsinnig, während er sich vom Kiosk entfernte, dann bin ich wohl wirklich auf dem falschen Dampfer. Das ist dann einfach nicht meine Sache. Aber was ist denn dann meine Sache? Mich in Papieren vergraben? Mir bei Dissertationsverteidigungen den Arsch breitsitzen, mir anhören, wer wen beeinflusst hat? Das Matriarchat im Paläolithikum? Die Geschichte der Nagelschere? Für wen?! Wozu?!
    Mitja zuckte resigniert die Achseln und stapfte wütend über den staubigen Bahnhofsvorplatz. Die bedrängenden Gedanken an seine Sache , das Grübeln über seinen Lebensweg, vor allem aber die Unmöglichkeit, sich zu entscheiden, nicht mehr von Zweifeln geplagt hin und her zu

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