Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Ferien und am Wochenende zu sich geholt. Wissen Sie, Lilja stand völlig allein, ihre Schwester, Ljussjas Mutter, ist tot, und das Mädchen ist behindert.« Die Nachbarin rückte näher an Borodin heran und flüsterte noch leiser: »Ljussjas Mutter war drogensüchtig, der Vater ist unbekannt. Mein Gott, was für eine Tragödie! Ja, ja, es stimmt schon: Keine gute Tat bleibt ungestraft. Lilja war ein guter, reiner Mensch, und sie hatte wirklich Talent. Alles Schöne, was Sie hier sehen, hat sie selbst gemacht – die Vorhänge, die Möbelbezüge, die Tischdecke …« Die Nachbarin schluchzte auf und schnäuzte sich laut. »Ich kann es noch gar nicht fassen – was für eine Tragödie!«
»Ja, ja«, murmelte Borodin, stand auf, ging zur Wand und klopfte mit den Fingerkuppen dagegen. »Sagen Sie, haben Sie irgendwelchen Lärm gehört?«
»Nein.« Die Nachbarin schüttelte den Kopf. »Ich habe einen sehr leichten Schlaf, und die Wände sind dünn. Wenn etwas gewesen wäre, hätte ich es bestimmt mitbekommen.«
»Sie haben also keine Schreie gehört oder das Poltern von Möbeln?«
»Gott behüte! Dann wären mein Mann und ich doch sofort zu Hilfe geeilt und hätten die Miliz gerufen. Wir verstanden uns sehr gut mit Lilja.«
»Ilja, kann ich Sie kurz sprechen?«, rief der Gerichtsmediziner aus der Küche.
»Entschuldigen Sie mich.« Borodin ging hinaus.
»Der Tod ist vor höchstens zwei Stunden eingetreten«, sagte der Pathologe, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen Hocker. »Dieses Mädchen ist eine Bestie. Achtzehn Stichwunden am ganzen Körper, sechs davon in den Rücken. Sie hat sie erst getötet und dann zur Heizung geschleppt und hingesetzt.«
»Und das alles ganz leise, quasi auf Zehenspitzen«, sagteBorodin. »Sonst hätte jemand was gehört, bei den Pappwänden hier.«
»Klar, Plattenbau.« Der Pathologe nickte und hielt Borodin die geöffnete Zigarettenschachtel hin. »Bedienen Sie sich.«
»Danke, ich rauche nicht.« Borodin hockte sich neben die Tote. »Eine hübsche Frau.«
Der Pathologe nickte. »Ja, nicht übel.«
»Jung, hübsch, allein. Häuslich, reinlich und mit einem Faible für Handarbeiten.« Borodin sah den Pathologen nachdenklich an. »Eine Frau, die Spitzendecken häkelt, ist bestimmt ruhig und ausgeglichen.«
»Vielleicht hat das ja die Nichte so aufgebracht«, mutmaßte der Pathologe.
»Achtzehn Messerstiche.« Borodin schüttelte den Kopf. »Klingt eher nach einem wilden Streit im Suff.«
»Klingt nach einem Psychopathen.« Der Pathologe lachte schief und blies einen Rauchkringel in die Luft. »Und wenn der erste Stich überraschend kam und ins Herz traf, dann hat sie auch nicht geschrien und sich nicht gewehrt.«
»Um das Herz auf Anhieb zu treffen, muss man genau wissen, wo es liegt«, knurrte Borodin. »Außerdem braucht er eine ruhige, starke Hand. Nein, was meinen Sie, warum hat das Opfer nicht geschrien und sich nicht gewehrt?«
»Das fragen Sie mich?« Der Pathologe hob die Brauen.
»Nein, mich selbst.« Borodin lächelte. »Die Nachbarn sagen, am Abend und in der Nacht sei es ruhig gewesen. Und es gibt keinerlei Kampfspuren.«
»Die Kleine hat ihrer lieben Tante erst Clonidin verabreicht und dann auf sie eingestochen«, bemerkte der Pathologe sarkastisch. »Ziemlich clever für eine Geisteskranke. Aber vielleicht simuliert sie ja nur? Obwohl – wer so oft zusticht, muss schon krank im Kopf sein, eine wahre Bestie. Echter Schwachsinn, das Ganze.«
Borodin nickte. »Schwachsinn, genau.«
Die Tote, Lilja Anatoljewna Kolomejez, hatte allein gelebt, war kinderlos und, wie aus dem Ausweis hervorging, nie verheiratet gewesen. Sie arbeitete als Designerin in einer Spielzeugfabrik. In einer Schachtel mit Papieren lag ein Totenschein – Olga Kolomejez, gestorben am 30. Juni 1989, Todesursache: Suizid. Und die Geburtsurkunde von Ljussja, Ljudmila Kolomejez. In der Spalte »Vater« war ein Strich. Interessant war das Geburtsdatum: 6. Juni 1985. Ljussja war also gestern fünfzehn geworden.
»Ljussja, wie alt bist du?«, fragte er, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Doch das Mädchen sagte laut und deutlich: »Vierzehn.«
»Und wann hast du Geburtstag?«
»Ich weiß nicht.« Ihr Kopf sank zwischen die Schultern, ihr Gesicht war leer.
»Sie lügt«, flüsterte Unterleutnant Teletschkin Borodin ins Ohr. »Sie weiß ihre Adresse und ihr Geburtsjahr, sie weiß garantiert auch den Tag, und überhaupt ist sie weniger gestört, als sie uns weismachen
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