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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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gehabt hatte, als sie das letzte Mal die Wohnung verließ, enthielt nicht eine Kopeke. Es gab keine Sparbücher, keine Kreditkarten. Kein einziges Schmuckstück, weder in der Wohnung noch an der Toten. Die Nachbarn wussten natürlich nicht, wie viel Geld in der Wohnung gewesen sein könnte, auch über eventuellen Schmuck konnten sie nichts sagen. Allerdings erinnerte sich die Nachbarin, dass Lilja teure goldene Ohrringe mit großen Saphiren besessen und angeblich stets getragen habe.
    Die Schreibtischfächer enthielten Mappen mit Schnittmustern auf Pergamentpapier, Glückwunschkarten und zwei Fotoalben. Die steckte Borodin ein, um sie sich in Ruhe anzusehen. Irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Er setzte sich an den Schreibtisch, verfasste das Protokoll und hielt plötzlich inne, den Blick auf das raffinierte Muster der gehäkelten Tischdecke gerichtet.
    Eine Frau mit einem Faible für Handarbeiten muss doch Wolle, Strick- und Häkelnadeln, Scheren und Stoffreste im Haus haben. In der Wohnung der Toten gab es eine teure Nähmaschine, aber keine einzige Garnrolle, keinen einzigen Wollfaden.
    Blödsinn, sagte sich Borodin, angenommen, das schwachsinnige Mädchen hat in einem Zustand der Verwirrung seine Tante erstochen. Schön, so was kommt vor. Dann nimmt sie Geld und Schmuck, die Saphirohrringe womöglich aus den Ohren der Toten, dazu sämtliche Handarbeitsutensilien, bringt das alles weg, versteckt es, geht zurück, sieht die toteTante, bekommt einen Schreck und läuft wieder hinaus auf die Straße, und zwar barfuß und im Nachthemd? Blödsinn!
    Borodin wollte nicht mit dem Auto ins Präsidium fahren, sondern lieber ein Stück laufen. Mit der Morgendämmerung hatte es aufgeklart, die Luft war weich und seidig wie Quellwasser. Nach der schlaflosen Nacht war ihm ein wenig schwindlig, aber er fühlte sich ausnehmend munter. Er war wütend, und das machte ihn immer munter.
    Er liebte komplizierte, verworrene Fälle. Und dies war so ein Fall. Es würde schwer sein, zu beweisen, dass Ljussja den Mord nicht begangen hatte, er war ja selbst nicht hundertprozentig sicher. Es würde nicht leicht sein, den bewussten »Mann« zu finden – wenn es ihn wirklich gab, denn die Blumen und Pralinen konnte auch Lilja Kolomejez ihrer Nichte zum Geburtstag geschenkt haben.
    Wütend war Borodin aber vor allem deshalb, weil ihm die stille, einsame junge Frau, die Puppenkleider entworfen, Spitzentischdecken gehäkelt und Blümchen auf Leinensäckchen mit getrocknetem Lavendel gestickt hatte, unendlich leid tat.
    Tief in Gedanken, sah Borodin sich nicht um. Er kannte die Gegend – als er aus dem Haus kam, wusste er sofort, dass die Metro ganz in der Nähe war und er den Weg durch Höfe und kleine Gassen abkürzen konnte. In einem Hof stolperte er, stieß mit dem Knie gegen ein gewaltiges, aus der Erde ragendes Eisenrohr und wäre beinahe gestürzt. Hier wurden neue Rohrleitungen verlegt, man hatte den Asphalt aufgerissen, alles aufgebuddelt und es versäumt, die Baustelle zu umzäunen. Der Weg darum herum führte über einen Spielplatz. Humpelnd ging Borodin weiter. Ein unerträglicher Gestank drang ihm in die Nase. Auf dem Rand des Sandkastens saß ein Obdachlosenpärchen. Der Mann schlief, an die Schulter seiner Freundin gelehnt, und sie kramte konzentriert in einem kleinen truhenähnlichen Korb auf ihrem Schoß, wühlte in etwas Buntem, Weichem. Borodin erstarrte.
    »Was kuckstn so?«, fragte die Obdachlose. »Geh weiter.«
    In ihren schmutzigen, schwieligen Händen zitterte wie lebendig ein Knäuel zartrosa Wolle – aus dieser Wolle war die Tischdecke mit den langen Fransen in der Wohnung der Toten.

Zweites Kapitel
    Die Redaktion der Zeitschrift »Blum« nahm die unterste Etage einer kleinen Villa in einer gemütlichen Gasse im Zentrum von Moskau ein. Ein flüchtiger Blick auf die Villa, den gepflegten grünen Hof und die dort geparkten ausländischen Wagen offenbarte, dass hier nicht die ärmsten Firmen und Organisationen residierten.
    Trotz der harten Konkurrenz prosperierte das Hochglanzmagazin. Etwa siebzig der hundert Seiten waren mit Werbung gefüllt, die übrigen dreißig mit Fotoreportagen von angesagten Szene-Events, Artikeln über Sex, Interviews mit dubiosen Psychologen, die Dinge behaupteten wie: der Mutterliebe liege ein unbewusstes Inzeststreben zugrunde oder Arbeitseifer sei die Folge unterdrückter sexueller Instinkte. Ein paar Seiten enthielten spöttische Kritiken zu Neuem aus Film, Theater und Literatur sowie Notizen

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