- Das Haus der kalten Herzen
Marietta.
Als Mercy den Namen las, begannen die Finger zu kribbeln, mit denen sie den Brief hielt. Plötzlich wurde sie gewahr, dass ihr Haar sie im Gesicht kitzelte, wie schwer die Bettdecke war und wie still das Haus.
Marietta.
An eine Marietta konnte sie sich nicht erinnern. Warum hatte der Name so ein Gewicht? Die Seiten im Buch ihrer Erinnerung wurden wieder und wieder umgeblättert. Aber sie konnte den Finger nicht auf die richtige Stelle legen.
Marietta. Und noch jemand anderes.
Nach einem forschen Klopfen marschierte Galatea ins Zimmer. Mercy stopfte die Briefe unter das Kissen.
»Mercy, Zeit zum Ankleiden. Beeil dich«, sagte sie. »Was tust du da?«
»Ich … ich habe Tagebuch geschrieben. Entschuldige.« Sie kletterte aus dem Bett und zog die Decke bis zum Kopfende, in der Hoffnung, der Eindringling möge nicht nachsehen.
Galatea sah nach. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Bett, aber sie insistierte nicht weiter. Sie schnalzte nur missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
Beim Frühstück war Charity ziemlich munter, sie plauderte mit Aurelia. Beide saßen am Küchentisch und aßen gekochte Eier mit Toast von blau-weißem Porzellan. Es war warm in der Küche, und einen kurzen Augenblick lang glaubte Mercy beinahe, dass alles wieder so war wie immer.
Erneut hatte Galatea eine Unterredung mit Trajan und die Mädchen durften sich von ihren Schularbeiten freinehmen. Aurelia, die zweifellos den Anweisungen ihres Vaters folgte, gab den Kindern keine Gelegenheit zu lauschen. Sie spannte sie beim Brotbacken ein, und dann, während der Teig ging, warf sie die beiden hinaus, damit sie Bewegung und frische Luft bekamen. Allerdings machte sie ihnen die strenge Auflage, sich nicht aus dem Garten zu entfernen.
Draußen im bereiften Gras erklärte Mercy ihrer Schwester, was sie gelesen hatte.
»Claudius hat also etwas Böses getan?«, fragte Charity. »Ich verstehe wirklich nicht, was das bedeuten könnte. Und wer war Marietta?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich von Claudius halten soll«, sagte Mercy. »Die Briefe haben mich einfach nur verwirrt.«
Aber den Mädchen blieb nicht viel Zeit zum Reden. Wenige Minuten später eilte Galatea aus dem Haus und setzte ihnen nach.
Mit dem Rücken zu Galatea und einer sauren Miene knetete Aurelia in der Küche den Teig noch einmal durch. Mercy schloss daraus, dass die beiden Frauen Meinungsverschiedenheiten wegen der Betreuung der Mädchen gehabt haben mussten. Vermutlich hätte Aurelia sie nicht allein nach draußen gehen lassen dürfen, nicht einmal in den Garten. Aurelia hatte ein weicheres Herz als Galatea, aber beide Dienstboten waren verpflichtet, Trajans Befehlen zu folgen. Mercy zog die Stiefel aus.
Anfangs sagte Galatea nichts. Mit vor Wut zusammengekniffenem Gesicht starrte sie Mercy an. Mercy brachte es nicht über sich ebenso zurückzustarren. Offenbar war sie entlarvt worden. Was würde ihr Vater nun sagen? Es fiel ihr schwer, ihren Kummer und die Tränen zu unterdrücken.
»Mercy, du bist ein böses Mädchen«, sagte Galatea. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du musst in die Bibliothek gehen und mit deinem Vater reden. Dies ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Charity bleibt hier bei Aurelia.«
Mercy trottete zur Bibliothek. Wussten sie Bescheid über den Diebstahl der Briefe? Sie fürchtete sich vor der Unterredung. Charity war doch ihre Komplizin gewesen, warum musste er da nur auf ihr herumhacken? Der Weg war nicht weit, aber sie ließ sich Zeit. Sie ertrug es nicht, ihrem Vater unter die Augen zu treten. Schließlich stand sie mit klopfendem Herzen vor der Tür, sie atmete tief durch und klopfte an.
»Herein.« Die Stimme war gedämpft. Mercy machte die Tür auf und trat ein. Im Kamin brannte ein Feuer. Das Licht flackerte über die Rücken der Bücher auf den Regalen, über die Reihen von Trajans Werken über Pflanzen, ein Thema, von dem er einst besessen gewesen war. Mercy erinnerte sich noch, wie er vor Zeichnungen von Blumen oder botanischen Abhandlungen über unbekannte und exotische Pflanzen gesessen hatte, die in der Neuen Welt entdeckt worden waren.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug, wie zu jeder Viertelstunde. Trajan stand auf der anderen Seite des Raumes, nicht weit von dem Regal, an dem Mercy in das andere, sonnigere Century gelangt war, und hatte seiner Tochter den Rücken zugewandt. Sie zögerte eine Weile, ehe sie sprach.
»Vater«, sagte sie. »Galatea sagte mir, du wünschtest mich zu sehen.«
Trajan
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