- Das Haus der kalten Herzen
mir. Jetzt geh zurück zu Galatea. Achte darauf, nur ja zerknirscht dreinzuschauen. Und sprich nicht mit Claudius, versuche auch nicht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Wenn er wieder auftaucht, musst du es mir sagen. Ich werde ihm Einhalt gebieten müssen, ehe er es noch weiter treiben kann. Dann wird unser Frieden wiederhergestellt werden.«
Mercy machte den Mund auf, um wieder etwas zu fragen, aber Trajan hob die Hand und brachte sie zum Schweigen.
Immer noch schniefend stand Mercy auf und verließ den Raum mit dem Taschentuch ihres Vaters in der Faust. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Wie sehr er sie doch ernüchterte. Sie wollte … ja, was denn? Sie wollte die Wahrheit über ihre Mutter wissen. Mit einem Wonneschauer erinnerte sie sich an das sonnendurchflutete Haus. Wollte sie immer noch dorthin zurück?
Später aßen sie mit Trajan bei Kerzenlicht zu Abend. Dann las Galatea ihnen im Spielzimmer bis zum
Morgengrauen vor. Sie sorgte dafür, dass die Mädchen keine Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen, und verbannte sie schließlich in ihre jeweiligen Zimmer, als sie für Widerworte längst zu müde waren.
Mit Trajans Taschentuch unter dem Kopfkissen lag Mercy im Bett. Nach diesen letzten unruhigen Tagen empfand sie ein Gefühl der Erleichterung. Sie konnte sich darauf verlassen, dass ihr Vater sie beschützte. Wenn sie tat, was er sagte, würden die Veränderungen vielleicht aufhören, und der Schmerz der Erinnerung würde vergehen.
Beim Sonnenuntergang schrie das kleine Mädchen, der Geist, der Verstecken spielte.
Schweißgebadet wachte Mercy aus einem Traum von der Frau unter dem Eis auf. Der Traum war in helle Farben getaucht gewesen, Tagesfarben. Darin lief Mercy mit einer Axt in der Hand über die Wiese und schlug das Metall tief in die gefrorene Oberfläche des Teiches, sodass riesige glasige Splitter spritzten. Aber der Teich war hart wie Eisen, bis auf den Grund.
Wieder schrie das Mädchen. Mercy sprang aus dem Bett und lief hinaus auf den Korridor. Das war jetzt ihre Chance, wieder durch die Tür zu schlüpfen, zu diesem anderen Ort.
Nein. Nein! Sie würde den Geist ignorieren und lieber wieder schlafen gehen. Sie hatte die Stimme ihres Vaters noch im Kopf. Seinen Trost.
Der Geist lief auf den Wandteppich zu und wies den Weg zum Sonnenschein und den glücklichen kleinen Schwestern. Mercy eilte ihm nach, blieb dann aber stehen. Sie fühlte sich hin und her gerissen. Zwischen Dunkelheit und Licht. Kälte und Hitze. Gemütlicher Vertrautheit – und schmerzhaftem Wandel.
Trajan war so lieb gewesen. Sie wollte ihn nicht wieder aufregen. Sicher wusste er, was das Beste für sie war. Doch warum zog dieser andere Ort sie immer noch so stark an? Das Sonnenlicht und die Frau, die ihre Mutter war, lockten.
Würde er es erfahren, wenn sie einen letzten Besuch dort machte, um sie noch einmal zu sehen? Die Versuchung war zu groß. Trotz und Schuldgefühle lagen im Widerstreit miteinander. Mercy folgte dem Geist.
Sie schloss die Augen, ließ die Hand hinter den Wandteppich gleiten und tat einen Schritt in die Leere. Dieses Mal war sie auf das Gefühl zu fallen vorbereitet, aber der Schock, der mit dem eisigen Sturz durch den Raum einherging, wurde dadurch nicht geringer.
Bei der Landung hatte sie die Finger auf die Augen gedrückt, zum Schutz gegen das stechende Tageslicht. Sie spürte es auf den Handrücken und auf der Stirn. Als sie zwischen ihren Fingern hindurchspähte, sah sie Trajans rotes Buch auf dem Fußboden liegen. Mercy bückte sich. Sie nahm es und schlug die Buchdeckel auf, um sich das Titelbild mit dem Haus und dem Reiter anzuschauen. Das Buch pulsierte wie mit einer seltsamen Kraft aufgeladen.
Aber sie wusste, dass sie es nicht mitnehmen konnte, also ließ sie es in der Bibliothek liegen und eilte den Korridor entlang. Als sie am Kinderzimmer vorbeikam, trat Thekla aus der Tür, wie beim ersten Mal, mit ihrem langen goldenen Haar und dem hinter ihr her wehenden Hauch Parfum.
Mercys Herz schien bei ihrem Anblick zerreißen zu wollen. War sie im selben Moment gekommen wie beim letzten Mal? Vielleicht würde Thekla hinauf in ihr Zimmer gehen und wieder die Schubladen durchsuchen.
Im Kinderzimmer tranken die beiden Mädchen Tee aus den Tassen mit den blauen Rosen.
»Frierst du?«, fragte die kleine Mercy ihre Schwester.
»Nein, nicht die Spur. Ehrlich gesagt, mir ist ziemlich heiß.«
»Ich habe einen kalten Luftzug gespürt«, sagte die Erste mit einem Schaudern. Mercy
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