- Das Haus der kalten Herzen
sie.
Charity breitete das Tuch aus und Mercy häufte die Briefe darauf. Dann band sie die Ecken zusammen.
Indessen starrte Charity aus dem Fenster in die Nacht hinaus. »Glaubst du wirklich, das ist Mutters Zimmer?«, fragte sie verträumt. »Hat sie hier gelegen?« Sie ließ sich aufs Bett zwischen die Blätter fallen und zog die Beine an. »Habe ich früher hier gelegen? Mit Mutter?«
»Wir müssen gehen«, sagte Mercy. »Wir werden sie finden. Da bin ich mir sicher. Ich will sie auch wiedersehen. Ich glaube nicht, dass sie tot ist. Ich glaube, sie haben uns angelogen, Charity.«
Sie rannten zurück zum Treppenabsatz und Hals über Kopf die Treppen hinunter, rannten den ganzen Weg zurück zu Mercys Zimmer. Dann versteckte Mercy die Briefe unter einem Dielenbrett unter ihrem Bett.
»Jemand ist uns gefolgt«, sagte Charity. »Ich habe Schritte gehört.«
Mercy nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Die habe ich auch gehört.«
Vier
Mercy spähte den Korridor hinunter, dann schloss sie die Tür zu ihrem Zimmer ab. Ein grauer winterlicher Morgen kroch bereits über die Baumwipfel, aber Mercy zog ihre Vorhänge zu und zündete eine Kerze an, damit sie sich die Briefe anschauen konnten. Nie hatte sie sich darüber gewundert, dass sie im Morgengrauen einschliefen – es war ganz einfach ein Teil ihres wie unter Hypnose ablaufenden Tagesrituals gewesen. Ob man sich dagegen wehren konnte? Ob sie aufbleiben und die Sonne aufgehen sehen konnten? Irgendein Zauber lag über dem Haus, alles verlief nach einem sich wiederholenden Muster, das ihnen das Tageslicht vorenthielt. Vielleicht konnten sie dagegen ankämpfen.
»Charity, glaubst du, wir könnten wach bleiben? Es dauert doch nicht mehr lange, bis der Tag anbricht, nicht? Wie wäre es, wenn wir versuchen würden, wach zu bleiben?«
Doch Charity gähnte schon. Sie schaute zu ihrer Schwester hoch. »Wir könnten es versuchen«, sagte sie unsicher. »Aber ich bin schon so müde.«
Sie saß auf Mercys Bett und ließ die Briefe aus ihrem Tuch auf die Decke fallen. Voller Eifer nahmen die Mädchen einen nach dem anderen in die Hand.
»Die sind auf Italienisch«, sagte Mercy.
»Dieser hier ist auf Latein.« Charity hob das Papier höher und versuchte, die verblasste Schrift zu lesen. »Das ist zu schwer für mich.«
»Was für eine seltsame Schrift«, sagte Mercy und nahm einen weiteren Brief zur Hand. Das Papier war weich wie Stoff und gelblich, mit braunen Rändern.
»Sieh mal«, sagte sie. In dem Stapel befand sich ein abgesondertes Bündel von etwa einem Dutzend Briefen, die mit einer staubigen rosa Seidenschleife zusammengebunden waren.
»Liebesbriefe.« Charity grinste. »An wen sind sie und wer hat sie geschrieben?«
Mercy löste das Band und faltete den ersten Brief auseinander. »Die Schrift ist schwer zu entziffern. Es ist Italienisch.« Mercy kniff die Augen zusammen und versuchte, die Linien und Schnörkel zu entwirren. Sie hob die Kerze und hielt sie näher an das Papier.
»Vorsicht, das brennt doch«, schimpfte Charity.
Mercy ließ das Papier sinken und stellte die Kerze wieder auf den Nachttisch. Sie schaute ihre Schwester an.
»Was ist denn?«
Langsam sagte Mercy: »Soweit ich das erkennen kann, sind sie an Thekla gerichtet und von Trajan geschrieben. Das sind Briefe von unserem Vater an unsere Mutter. Aus dem Jahr 1689.«
Einen Moment lang starrten sie einander an, während ihre Gedanken davongaloppierten.
»Dann war es also ganz sicher Thekla, die ich gesehen habe, denn das sind ihre Briefe und das muss ihr Zimmer gewesen sein«, sagte Mercy.
»Und welches Jahr haben wir jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Ist das nicht merkwürdig? Ich habe das Gefühl, 1689 ist schon sehr lange vorbei.«
»Vielleicht sind dieser Trajan und diese Thekla Vorfahren unserer Eltern und hatten nur dieselben Namen«, sagte Charity. Sie griff nach jedem Strohhalm.
»Vielleicht.«
Sie sortierten die Briefe auf verschiedene Haufen. Das Bündel alter Liebesbriefe auf einen, die italienischen Briefe auf einen zweiten, die lateinischen kamen auf einen dritten. Die italienischen Briefe schienen von Verwandten in der alten Heimat an Thekla und Trajan in England geschrieben worden zu sein. Die meisten waren aus dem Jahr 1780. Komisch, dachte Mercy, die lateinischen Briefe waren ungefähr zur selben Zeit verfasst worden. Sie waren an Thekla adressiert, aber der Name darunter sagte Mercy nichts.
Als sie aufschaute, war Charity eingeschlafen, ihr Kopf war auf das Kissen
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