- Das Haus der kalten Herzen
Arme fest um ihren Körper, als ob sie auf diese Weise alles zusammenhalten könnte, dann starrte sie an die Küchenwand, ohne etwas zu sehen.
Unaufgefordert stellte Aurelia eine Tasse Schokolade neben sie auf den Tisch.
»Danke«, sagte Mercy automatisch.
»Deine Ohrringe gefallen mir«, sagte Aurelia. »Mit denen habe ich dich noch nie gesehen.«
»Ich glaub, ich gehe in mein Zimmer«, sagte Mercy plötzlich. Sie nahm ihre Tasse. »Ich bin müde.«
Mercy schloss die Tür zu ihrem Zimmer ab und holte ihr rotes Buch aus dem Versteck. Sie setzte sich an den Schreibtisch und zog die kleinen Schubladen heraus. Dort entdeckte sie ihre eigenen alten Briefe und Hefte, verschimmelt und schwer zu entziffern. Sie holte ihr Tagebuch hervor, in das sie ihre Geschichten und Gedichte gekritzelt hatte. Dieser Zeitvertreib hatte ihr so viel Trost gespendet, aber jetzt, als sie die Geschichten und Reime noch einmal las, ergaben die Worte keinen Sinn. Sie legte sie beiseite.
Stattdessen nahm sie eine Feder zur Hand, tunkte sie in Tinte, holte tief Luft und schlug das rote Buch auf. Auf die Titelseite schrieb sie Das Haus der kalten Herzen: Ein Roman. Dann ihren Namen. Mercy Galliena Verga. Und die Jahreszahl: 1890.
Sie blätterte auf die erste Seite und schrieb mit römischer Ziffer die Nummer des Kapitels. Das würde kein weiteres Tagebuch werden, sondern eine Geschichte. Claudius hatte gesagt, sie solle ihre eigene Geschichte von Century schreiben, eine Zusammenfassung der hundert Jahre langen Geschichte und von allem, was in dem riesigen alten Haus geschehen war. Nur würde es dieses Mal ein glückliches Ende geben.
Wo sollte sie anfangen? Sie wusste es genau. Sie schrieb:
Eine Frau unter dem Eis
Sowie der erste Satz auf dem Papier stand, hörte Mercy auf zu schreiben. Sie schaute aus dem Fenster. Begriff sie eigentlich, was sie da tat? Konnte sie Claudius vertrauen? Ehrlich gesagt vertraute sie ihm nicht. Dennoch hatte er in einem Recht. Sie und Charity waren lebendig begraben und ein endloses Dasein ohne Veränderung konnte nicht länger erduldet werden. Trajan hatte sie alle in einer langen Nacht voller Kälte, Staub und Raureif eingeschlossen. Wo war da denn die Güte?
Sie kaute auf der Feder herum. Sie wusste genau, wie das Buch aussehen sollte – es brauchte Zeichnungen. Wenn der Zauber wirken sollte, musste sie Charity ins Vertrauen ziehen. Sie würde sie überreden müssen.
Gelber Kerzenschein ergoss sich über den Schreibtisch, über das Buch, über Hände und Gesicht. Sie hatte nur eine Stunde zur Verfügung. Wieder fing sie an zu schreiben.
Ein Geis t. Mercy konnte Geister sehen …
*
Nach dem Mittagessen nahm Galatea sie wieder auf einen Spaziergang mit. Sie gingen hinunter zum See und am Ufer entlang. Mercy war in ihre eigenen Gedanken versunken, sie dachte an ihre Geschichte. Sogar Charity war bedrückt. Die Dunkelheit war belastend. Sie hatten die Kälte satt. Der glitzernde Reif hatte seinen Zauber verloren. Später ging Galatea zu einer Unterredung mit Trajan davon. Aurelia schürte die Feuer und kochte heißes Fruchtkompott. Sie war seltsam lebendig und versuchte, sie mit Geplapper aufzumuntern. Mercy fragte sich, wie alt Aurelia wirklich war. Sie gehörte zum Clan der Vergas, genau wie Claudius und Galatea, Thekla und Charity. Wenn Claudius Recht hatte, würde sie Hunderte von Jahren leben. Ob Aurelia die Dunkelheit auch leid war? Aber Mercy konnte sie nicht um Hilfe bitten. Sosehr Mercy die Haushälterin auch liebte, sie wusste, dass Aurelia Trajan verpflichtet war und seinen Befehlen treu Folge leisten würde. Im Gegensatz zu Mercy hatten Aurelia und Galatea uneingeschränktes Vertrauen in die Urteilskraft ihres Herrn. Mercy ging in ihr Zimmer, aber als sie die Tür abschließen wollte, stellte sie fest, dass der Schlüssel fehlte. Jemand hatte sich an ihrem Schreibtisch zu schaffen gemacht, die Papiere lagen nicht mehr an ihrem Platz. Zum Glück war das rote Buch an dem sicheren Ort unter ihrem Bett, unter dem Dielenbrett. Mercy war verärgert, aber nicht im Mindesten erstaunt. Vermutlich hatten Galatea oder ihr Vater ihr Zimmer durchsucht. Sie zog die Gardinen auf und schaute über den Garten hinweg auf die dahinterliegenden Felder. Für einen Moment schienen ihre Energie und Entschlossenheit sie zu verlassen. Ein Gefühl der Trostlosigkeit überkam sie, als sie in die Dunkelheit blickte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Probleme, vor denen sie stand, schienen so vielschichtig und
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