- Das Haus der kalten Herzen
sie schneller war und sie überraschen konnte. Sie schubste sie beiseite. Galatea kreischte schrill auf, wütend und verstört zugleich. Mercy blieb nicht stehen. Sie schoss den Korridor entlang und verschwand in der Dunkelheit, ehe Galatea das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Hinter ihr schrie die Gouvernante los und rief um Hilfe. Mercy rannte an den hohen Fenstern vorbei auf den Wandteppich mit dem Einhorn zu. Ihre Finger nestelten an der Vertäfelung dahinter.
»Lass mich durch, bitte«, betete sie. Wie hatte sie es davor geschafft? Eine Willensangelegenheit, hatte Claudius gesagt. Mercy stellte sich vor, wie sie an dem anderen Ort war, in der Bibliothek im Sonnenschein. Galatea verfolgte sie noch immer schreiend. Sie kam näher. Mercy zog den Wandbehang beiseite und schob ihren Körper in ganzer Länge gegen das Holz. Einen Moment lang leistete ihr der versteckte Durchgang Widerstand. Wenn die Tür doch offen wäre, wünschte sie sich. Galatea streckte die Hand aus und wollte zupacken. Mercy konnte ihren Pfefferminzatem riechen – als das Paneel plötzlich nachgab.
Abwärts ging es, durch die Zwischenzeit. Der Raum, der einen Tag vom nächsten trennte. Ein Kapitel vom anderen.
Weit weg schimpfte Galatea und stampfte mit dem Fuß auf.
Mercy fiel. Wo war dieser Raum, fragte sie sich. Kopfüber, kopfunter, das konnte sie eigentlich nicht unterscheiden. Wo war denn überhaupt irgendein Raum, wenn man darüber nachdachte? Wo ein Ort war, konnte man doch nur feststellen, wenn man einen Bezugspunkt hatte.
Sie landete in der Bibliothek. Die Hände hatte sie sich vor die Augen gepresst, um sie vor der Sonne zu schützen. Das Buch klemmte unter ihrem Arm. Diese Ausgabe, ihre eigene, konnte von einer Sphäre in eine andere mitgenommen werden. Vielleicht weil es größtenteils aus leeren Seiten bestand. Nichts war festgelegt. Noch nicht.
Für ein oder zwei Minuten stand sie still. Nach und nach löste sie die Finger von den Augen, die sich an die Helligkeit gewöhnten. Sie war noch immer außer Atem von der Verfolgungsjagd. Ihr Herz raste. Sie ging auf das Regal mit den Reiseberichten und Landkarten zu, um Die genaue geografische Lage des Lermantas-Archipels herauszusuchen. Im Umschlag steckte ein mit Tinte befleckter Bauplan des Hauses, ein empfindliches Dokument, das beim Auffalten einriss. Ein blaues Kreuz war auf dem Korridor vor ihrem Zimmer auf der Höhe des Wandteppichs eingezeichnet. Ein rotes Kreuz in der Bibliothek, wo sie herausgekommen war. Ein zweites blaues Kreuz war auf dem Plan des ersten Stocks eingezeichnet, an einem Treppenabsatz bei einem Fenster zum Obstgarten.
Sie faltete den Plan zusammen und stopfte das Buch zurück ins Regal. Es wurde Zeit. Würde Galatea ihr jetzt noch folgen können? Oder Trajan, der Verfasser der Geschichte von Century?
Sieben
Mercy eilte durch das Haus. Der Sommer öffnete sich vor ihr wie eine Tür. Bald würde das Geburtstagsfest anfangen, während Claudius und Marietta ihr Stelldichein auf der Insel mitten im See hatten. Ein perfekter Tag. Mercy hatte keine Zeit, ihn zu genießen. Sie musste zum dritten der fünf Tage durchstoßen.
Den Treppenabsatz, von dem man Ausblick auf den Obstgarten hatte, fand sie. Draußen mähte ein Gärtner das Gras mit einer Sense. Mercy kletterte auf das Fensterbrett und presste ihren Körper gegen das Glas. Sie leerte ihren Geist und konzentrierte ihre ganze Willenskraft auf die Tür, die sie durchlassen sollte. Die Sonne ging aus.
Sie sammelte ihre Gedanken, während sie im leeren Raum hing. Bildete sie es sich nur ein oder wurden die Abstände größer? Die Abwesenheit von Licht und Ort beunruhigten sie nicht. Im Gegenteil, der dunkle Raum war tröstlich, wie Schlaf. Oder vielleicht Tod.
Vielleicht dehnten sich die Abstände, weil sie Trajans sorgfältige Konstruktion durcheinanderbrachte. Hatte er darauf angespielt, als er sagte, ihre Bewegung löse seinen Zauberbann auf? Die Kapitel trennten sich voneinander. Das ergab einen Sinn. Doch wie verhielt es sich mit Trajan? Stürzte er in diese stern- und atemlose Leere? Sie stellte ihn sich vor, wie einen Geist, der in der Vergangenheit umgeht, unfähig, das Geschehene zu ändern, und der beobachtete, wie die Ereignisse wieder und wieder durchgespielt wurden. Eine wehmütige Vorstellung, vielleicht auch eine bemitleidenswerte. Trotz seiner Kräfte hatte Trajan nicht die Stärke, sich den Herausforderungen eines neuen Lebens zu stellen, und Mercys Mitgefühl war versetzt mit
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