- Das Haus der kalten Herzen
gebracht.«
Mercy hörte zu, ihr Kopf war leer vor Entsetzen.
»Ich weiß, Sir«, sagte Galatea. »Sie ist ein schwieriges Mädchen, das immer noch unter Wahnvorstellungen leidet. Es ist gütig von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, sie zu besuchen. Sie bildet sich Dinge ein … sieht Leute, die nicht da sind.«
»Leute aus der Vergangenheit«, sagte Trajan. »Ja. Die Vergangenheit war so schrecklich, dass sie sie nicht ruhen lassen kann. Vielleicht kommt sie eines Tages darüber hinweg und kann frei sein und ihr wirkliches Leben wieder aufnehmen. Bis dahin ist es zu gefährlich für sie, frei zu sein.«
»Ja, Sir«, sagte Galatea. »Letzte Woche ist sie aus ihrem Zimmer geflohen und hat im Ostflügel ein Feuer gelegt. Zum Glück wurde nichts Wertvolles beschädigt, aber wir werden die Räume nicht mehr benutzen können.«
»Ich habe angeordnet, dass der Schaden behoben wird«, sagte Trajan. »Wie kommen Sie dazu, sie so herumirren zu lassen? Ihr hätte etwas zustoßen können.«
»Manchmal kämpft sie, Sir, und kratzt und beißt. Wie eine Wildkatze.«
Mercy mischte sich ein. »Warum macht ihr das? Vater, ich bin es? Was ist denn los?« Sie packte seinen Ärmel und zog daran. »Lass mich nicht hier. Das darfst du nicht tun!«
Voll Unbehagen entzog sich Trajan ihrem Griff. »Tut mir leid, Mercy. Es ist zu deinem eigenen Besten. Wenn es dir wieder besser geht, nehme ich dich mit nach Hause. Du musst darauf vertrauen, dass das Personal hier für dich sorgt und dir dabei hilft, gesund zu werden.«
Er wandte sich an Galatea. »Mir bricht es das Herz, sie so zu sehen.«
»Wie lange ist es her, seit ihre Mutter gestorben ist?«, sagte Galatea.
»Zwei Jahre schon. Eine lange Zeit.«
»Und ihre Schwester?«
»Glücklicherweise hat sie es nicht so schlecht aufgenommen. Ich habe sie in ein Internat geschickt, doch sie kommt mich in den Ferien besuchen.«
»Es muss tröstlich für Sie sein, dass es dem anderen Mädchen gut geht«, sagte Galatea und senkte den Blick.
»Mercy war schon immer ein fantasievolles Kind mit einer bemerkenswerten Gabe, Dinge zu erfinden, und einer hoch entwickelten Einbildungskraft.« Er schaute sie wieder an, obwohl sein Blick verschleiert war und er sie überhaupt nicht richtig sehen konnte.
»Ja, sie schreibt gern. Wir ermutigen Sie. Sie kritzelt immerzu an ihren Geschichten herum. Ich kann keinen Sinn darin erkennen, alles nur wirres Zeug. Doch ich hoffe, es hilft ihr dabei, ihre Gedanken zu ordnen.«
Trajan nickte. »Sorgen Sie dafür, dass sie ein neues Kleid bekommt«, sagte er. »Dieses ist viel zu klein. Der Ärmel reißt ab. Bringen Sie sie an die frische Luft?«
»Ja, Sir. Jeden Tag gehen wir auf dem Gelände spazieren. Ich nehme sie erst nach Einbruch der Dunkelheit mit hinaus, denn die Sonne scheint sie zu beunruhigen.«
Trajan wollte gehen, doch Mercy warf sich auf ihn.
»Lass mich nicht hier!«, schrie sie. »Nimm mich mit! Kannst du mich denn nicht mehr sehen?«
Erschreckt schüttelte er sie ab und ging rückwärts aus dem Raum, während Galatea mit der einen Hand die Tür auf- und mit der anderen Mercy festhielt. Die Erwachsenen wechselten einen flüchtigen Blick. Galatea machte die Tür zu und schloss ab. Mercy war wieder allein. Sie schlug gegen die Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen, bis ihre Hände grau und voller Blutergüsse waren. Dann nahm sie den Teller Grütze und schleuderte ihn krachend gegen die Wand.
Endlos wirkende Stunden blieben Mercy, um über ihre Lage nachzudenken. Das Haus war still. Niemand störte sie. Waren in den benachbarten Räumen andere Wahnsinnige eingesperrt?
Der Gedanke, eventuell verrückt zu sein, machte ihr Angst. Hatte sie die letzten Jahre wirklich im Wahn verbracht? Was war dann mit der langen Nacht von Century, der sich entfaltenden Geschichte über Thekla, Trajan und Marietta? Sie strengte sich an, die Fakten von der Fantasie zu trennen. Es war ihr unmöglich zu entscheiden, was Teil wessen war. Ein Traum von Dunkelheit und Gefangenschaft im Haus, ihre Abneigung gegen Galatea, Trajans Abwesenheit, das Spinnen einer Geschichte, die eine Erklärung für den gewaltsamen Tod ihrer Mutter war. Vermutlich war auch Aurelia eine Wärterin in der Anstalt, vielleicht eine, bei der sie Trost fand. All diese Dinge passten so gut zusammen und konnten leicht Fantasien einer Wahnsinnigen sein, die in einem Zimmer eingesperrt war. Wie sollte sie entscheiden, was echt war?
Ihr rotes Buch lag unter dem Kissen, abgewetzt und
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