- Das Haus der kalten Herzen
schwierig.
Die Erde bewegte sich. Wie eine Decke wurde der Schneeglöckchenteppich zurückgeschlagen. Unter den Blumen befand sich eine Lage verrottender Blätter, Würmer und harter Erde. Eine blasse Hand streckte sich aus dem Boden. Ein Arm, Schultern, ein Gesicht. Erde verstopfte Mund und Nasenlöcher. Durch das Zerren von Insekten und unterirdischen Lebewesen und durch das langsame Wachsen des Wurzelwerks hatte sich das Haar wie ein Fächer ausgebreitet. Behutsam musste Thekla die Strähnen ihres Haares aus dem Gewirr lösen.
Thekla Arcadius Verga. Ein Jahrhundert lang war sie begraben gewesen. Nun setzte sie sich auf, schlug die Augen auf und sah ihre Tochter vor sich.
»Mercy«, sagte sie mit einem Lächeln. Matsch verschmierte das blassgoldene Kleid. »Ich habe von deinem Geburtstagsfest im Garten geträumt. Erinnerst du dich daran?«
»Ja. Daran erinnere ich mich.« Mercys Lippe zitterte. Sie sah Thekla direkt in die Augen und in ihrem Gedächtnis wurden hundert Türen aufgesprengt. Bilder aus den zehn Jahren ihres Lebens vor dem Tod ihrer Mutter überströmten sie, Zeiten des Glücks und der Liebe erstrahlten und lösten gewaltige Gefühle aus.
»Ich erinnere mich«, wiederholte sie. Ihr Gesicht war tränennass. »Endlich erinnere ich mich. Ich habe dich so sehr vermisst. Mein Herz hat die ganze Zeit wehgetan und ich konnte mich nicht mal an dein Gesicht erinnern.«
Thekla streckte die Arme aus. Mercy drückte sich an ihre Mutter, presste ihr Gesicht an Theklas Hals und schlang die Arme um sie. Und sie weinte. Wie perfekt sie zusammenpassten, ihre Körper waren so anmutig in ihrer Umarmung, und Mercy hielt so fest, dass ihre Muskeln zu schmerzen begannen.
Schließlich lockerte Mercy ihren Griff.
»Als du gestorben bist, war Trajan so traurig und ängstlich, dass er einen Zauberbann über das ganze Haus gelegt hat. Er hat aus der Vergangenheit fünf Kapitel gedrechselt, die wie russische Puppen ineinanderstecken. Und du Mutter, du bist die winzigste und wichtigste Puppe von allen, genau in der Mitte seines Zauberbanns«, sagte sie.
»Die Leute sehen Century nicht mehr. Wir sind weggeschlossen. Die Sonne sehen wir nie und wir leben denselben Tag immer wieder. Claudius hat er auch in der Vergangenheit eingeschlossen. Zuerst wollte Claudius eingesperrt werden, glaube ich, damit ihm wenigstens ein Tag mit Marietta blieb. Doch jetzt will er flüchten. Du musst mir helfen, Mutter. Willst du, dass ich den Zauberbann breche? Hilf mir das letzte Kapitel zu schreiben, dann sind wir frei … und du wirst auch frei sein.«
Thekla lächelte wieder. »Es tut meinem Herzen so gut, dich zu sehen«, sagte sie. »Wenn der Zauber aufgehoben ist, wird auch meine Seele frei sein, die Welt hinter sich zu lassen. Ich weiß nicht, wo sie hingehen wird, nur, dass ich einem strahlend goldenen Licht folgen muss. Wie ich mich sehne, dahin zu kommen.«
Sie wand sich auf ihrem Kissen aus Erde und holte ein rotes Buch aus dem Boden. Die Worte Das Haus der kalten Herzen waren in Gold auf den Einband geprägt. Es war Trajans zauberisches Buch.
»Trajan ist ein mächtiger Mann, sogar wenn man die Vergas als Maßstab nimmt«, sagte sie. »So selten hat er seine Gabe benutzt. Er wollte sie nicht. Er sehnte sich danach, ein Mensch zu sein, ganz wie normale Leute. Deshalb sind wir nach England gezogen, um ein neues Leben anzufangen, weit weg von der Familie. Schöne Bescherung. Man kann nicht vor sich selber weglaufen.
Trajan hat einen Zauber gesponnen, er hat ein Netz aus Worten gewebt, die die Vergangenheit aufbrechen sollten, wie du gesehen hast. Er hat uns gefesselt. Das Buch erzählt die Geschichte des Hauses und erzählt ganz genau, wie es versteckt worden ist und von Trajans Unfähigkeit, mich loszulassen. Schreib das Buch noch einmal. Du hast die Teile zusammengesetzt, füg jetzt die letzten Seiten hinzu. Schreib ein neues Ende – ein gutes Ende. Schreib, wie der Sonnenschein nach Century gekommen ist, wie die Mädchen sich an die Vergangenheit erinnert haben und in eine neue Welt hinausgetreten sind. Schreib, dass Trajan wieder gelernt hat zu leben.«
Mercy nickte, sie hielt ihr eigenes Buch in der Hand. Sie stand auf. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen«, sagte sie. »Nun werde ich dich doch nicht wieder verlieren, oder? Ich werde mich erinnern?«
Thekla nickte. »Das wirst du.«
»Ich liebe dich«, sagte Mercy.
»Ich liebe dich auch.«
Die Krähen krächzten und flogen auf, hoch über die Kapelle. Für einen
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