- Das Haus der kalten Herzen
seit hundert Jahren wieder durch die Fenster, auf die Möbel, Gemälde und Bilder, und der Staub wirbelte auf.
In der Küche schürte Aurelia das Feuer. Sie schickte Charity zur Pumpe, damit sie Wasser für einen großen Kupferkessel holte.
»Ich muss Vater finden«, sagte Mercy, als die Haushälterin sich bückte, um Holz nachzulegen. Aurelia stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Nun sah sie wieder besorgt aus.
»Ich weiß nicht, wo du ihn finden wirst.« Einen Augenblick zögerte sie. »Sei vorsichtig, Mercy.«
Mercy nickte. »Ich bleibe nicht lange fort«, sagte sie. »Ich bin sehr hungrig. Wenn ich wiederkomme, könnten wir dann etwas essen? Wir alle zusammen?«
Sie ließ Aurelia vor dem lodernden Feuer stehen. Wo konnte Trajan sein? In Theklas Zimmer, am Bett der Frau, die er verloren hatte? Im ausgebrannten alten Dienstbotentrakt, wo er mit seinem Bruder gekämpft hatte?
Mercy hatte Angst davor, ihn zu sehen – und gleichzeitig sehnte sich auch schmerzlich danach. Jetzt konnte sie sich an die Tage erinnern, an denen sie mit ihm durch das sprießende Arboretum gegangen war, als er ihr die Namen der Bäume und Sträucher beigebracht hatte, und wie sie im Herbst im Park geritten waren. Wie er gelacht hatte, als sie sich lustige Geschichten über die Nymphen im Teich ausgedacht hatte.
Das Haus kam ihr kleiner vor. Das Labyrinth aus Treppen und Korridoren war gar nicht so kompliziert.
Mercys Instinkt führte sie in die Bibliothek. Sie schob die Tür auf.
Trajan saß mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Mercy ging an ihm vorbei und öffnete an jedem Ende die hölzernen Läden der hohen Fenster. Licht strömte herein und bildete pralle goldene Pfützen auf dem Boden. Staubteilchen glitzerten in den Sonnenstrahlen, die auf Trajans Schultern und seinem gesenkten Kopf landeten. Mercy stellte sich vor ihn und versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Vater?«, sagte sie sanft. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht gehorchen konnte. Aber was ich getan habe, tut mir nicht leid.«
Trajan blieb, wie er war.
»Wenn du willst, werde ich gehen. Ich werde das Haus verlassen. Ich weiß, du denkst, ich habe euch in Gefahr gebracht. Aber ich habe kaum gelebt. Es gibt so viel für uns, das wir sehen und tun können. Weggesperrt in der Nacht, waren wir im Begriff zu sterben. Ich will erwachsen werden. Ich will nach draußen gehen und Leute kennenlernen. Ich will etwas über unsere Familie wissen.«
Noch immer antwortete Trajan nicht, und einen Augenblick lang befürchtete Mercy, etwas Schreckliches wäre passiert … womöglich hatte sein Herz zu schlagen aufgehört oder er hatte eine Art Anfall erlitten. Aber das war ein törichter Gedanke. Die Vergas lebten ewig. Sie streckte ihre Hand aus und berührte seinen Scheitel mit den Fingerspitzen.
»Vater«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Trajan hob langsam seinen Kopf und schaute ihr in die Augen.
»Mercy«, sagte er. Seine Stimme war dünn und heiser. Er holte tief Luft und hustete, als wäre sein Hals voller Staub.
»Ich dachte … ich dachte, du wärst tot!«, sagte sie.
Trajans starres weißes Gesicht bekam einen warmen Ausdruck, den der Hauch eines Lächelns streifte.
»Sei nicht albern«, sagte er. »Wir sterben nicht so leicht.«
Mercy wartete darauf, dass er noch etwas sagte, sie versuchte herauszubekommen, wie seine Stimmung war. Trajan streckte die Arme und Finger und lockerte die Muskeln. Er rieb sich das Gesicht, als wäre er soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Überreste eines Buches. Der rote Einband war aufgeschlagen. Die Seiten waren verschimmelt und auseinandergefallen.
»Du musst das Haus nicht verlassen«, sagte er und rang dabei um die Worte. »Du hast mich übertroffen, Mercy. Nichts von dem, was ich dir in den Weg gestellt habe, konnte dich aufhalten.« Er blinzelte, seine Augen tränten. »Du erinnerst mich so sehr an sie«, sagte er.
Mercy schluckte. »Liebst du mich denn nicht auch?«, fragte sie mit piepsiger Stimme.
Trajan schaute sie schnell an. »Mercy«, sagte er sanft. »Ich konnte nicht ohne deine Mutter leben. Ich war ein Feigling. Ich konnte die Welt ohne sie nicht ertragen und ebenso wenig konnte ich das Wissen um Fredericks Verlust und die Verzweiflung meines Bruders ertragen. Meine Welt war zerbrochen. Uns zu verstecken und an der Vergangenheit festzuhalten, schien mir so viel einfacher zu sein.«
»Du … du bist also nicht böse auf mich?«,
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