Korona
Wo endet Recht? Wo beginnt Rache?
Kann Rache jemals zu Recht werden?
Es gibt Verbrechen, die einem Verstoß gegen Naturgesetze gleichen, Verbrechen, die so alt sind wie die Welt selbst. Sie existierten, ehe die ersten Gerichtsgebäude entstanden und die ersten Gesetze geschrieben waren. Verbrechen wie jenes, dass ein Mann zum Verräter an seinem besten Freund wird.
Was würden Sie empfinden, wenn die Person, mit der Sie von Kindesbeinen an zusammen waren – der Sie Ihr Leben anvertraut hätten – Ihnen kalt lächelnd ein Verbrechen in die Schuhe schöbe, das Sie gar nicht begangen haben? Glauben Sie nicht, Ihre Seele würde Schaden nehmen? Glauben Sie nicht, Sie würden Fragen stellen? Und wenn Sie keine Antwort erhielten, glauben Sie nicht, es würde Sie mit Wut erfüllen? Mit Hass? Mit dem Wunsch nach Vergeltung?
Mir erging es so. In dem Augenblick, als die Zellentür hinter mir zufiel, begrub ich meine Hoffnung, dass diese Geschichte ein gutes Ende nehmen würde. Mein Vertrauen in die Welt versiegte. Es starb, genau wie mein Glaube an das Gute im Menschen. Ich musste mit ansehen, wie kurz die Arme unseres Rechtsstaats sind, wie manipulierbar das System, auf dem unsere gesamte Zivilisation ruht. Diese Erkenntnis erfüllte mich mit tiefer Resignation. Sie machte mir deutlich, wie zerbrechlich unsere kleine Welt doch ist, wie schmal der Weg zwischen Recht und Unrecht. Doch eines gab mir Kraft. Das Versagen unseres Rechtssystems ließ kein Vakuum zurück, o nein. An seine Stelle trat etwas anderes: Ein archaischer Mechanismus, dessen Zahnräder sich erst quietschend, dann mit zunehmender Geschwindigkeit zu drehen begannen. Kolben fingen an sich zu heben und zu senken, Scharniere begannen zu ächzen, Bolzen spannten sich, und Schwungräder nahmen Fahrt auf. Es war, als würde ein urzeitliches Ungeheuer zum Leben erwachen. Ein Wesen, dessen Namen ich längst vergessen hatte und über dessen Lippen nur ein einziges Wort kam: Rache.
Wer glaubt, es existiere nicht, irrt. Ich habe es gesehen. Es haust dort, wo die Hölle den Menschen am nächsten ist.
Tief in den Eingeweiden von Mountjoy.
M.G.
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Prolog
Dublin, vor zehn Jahren …
U ngeachtet der schlechten Sichtverhältnisse peitschte der Wagen durch die Dunkelheit. Der Regen trommelte auf das Blech. Die Scheibenwischer bemühten sich redlich, die schwarzen, ölig glänzenden Wassermassen von der Scheibe zu fegen. Die Nacht war schwarz wie das Innere eines Handschuhs. Der metallische Widerschein des Chroms erzeugte helle Spuren auf dem nassen Asphalt. Schleier feinster Wassertropfen stiegen jenseits des Wagens auf und ließen die Rücklichter wie Nachbrenner eines Düsenjets aussehen. Der Asphalt flog nur so unter den Rädern dahin, während das Auto mit über hundert Sachen durch die Nacht raste.
Die Schnellstraße, die Richtung Dublin führte, verschmolz zu einem Teppich aus dunklen Flecken und verwaschenen Lichtern, der seltsam unwirklich an ihnen vorbeihuschte. Zum Glück war niemand außer ihnen unterwegs. Nicht um diese Uhrzeit, nicht bei diesem Wetter.
Der Jaguar X- 300 galt schon jetzt als Klassiker. Ein Geschenk stolzer Eltern an ihren einzigen Sohn. Weinrote Lackierung, Speichenfelgen, Doppelscheinwerfer, der Innenraum ein Traum aus Nussbaum und Leder. Die Geräusche des an Heftigkeit zunehmenden Regens wurden durch die gute Isolierung zu einem dezenten Trommeln gedämpft.
Im Inneren war die Stimmung ausgelassen. Feierlaune durchwehte den Fond. Partystimmung, vermischt mit dem Geruch von Whiskey und Zigaretten. Van Morrisons
Caravan
dröhnte aus den Lautsprechern und ließ die Türen im Rhythmus der Bässe erzittern.
Es war ihre Nacht. Sie hatten es geschafft, sie gehörten zu den Besten ihres Jahrgangs. Hazel, William und Matthew war gelungen, was noch keinem vor ihnen geglückt war. Als Iren hatten sie es geschafft, unter die besten Zehn der biologischen Fakultät in Cambridge zu kommen. Das hatte es noch nie gegeben – nicht, seit es Studenten von der Grünen Insel erlaubt war, hier zu studieren.
Die
Hot Three,
so wurden sie am College genannt, und verdammt noch mal, das waren sie. Jung, ehrgeizig und heiß.
Van Morrisons rauchige Stimme und die Wärme, die aus der Heizung drang, legten sich samten auf die Nervenenden und unterstrichen die Illusion, auf einem Zauberteppich unterwegs zu sein.
Die Semesterferien gingen dem Ende zu. Die letzte Gelegenheit, das vergangene Jahr angemessen zu würdigen und auf die Zukunft
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