Das Haus der kalten Herzen
Enten.
Die Gouvernante war schweigsam, aber Charity plapperte ihr fröhlich etwas vor.
»Ist das nicht schön?«, sagte Charity. »Irgendwo auf der anderen Seite gibt es bestimmt einen Tempel und ein Bootshaus. Wir sind schon so lange nicht mehr hier spazieren gegangen. Im Sommer, glaube ich, sind wir immer mit den Booten hinausgerudert.« Charity wirbelte davon und drehte Pirouetten auf dem bereiften Gras.
Mercy blieb zehn Schritte zurück und starrte finster auf Galateas steifen Rücken. Es war seltsam, Charity über die Vergangenheit reden zu hören. Erinnerungen wurden wach, bei ihnen beiden. Viel zu lange hatten sich ihre Gedanken in der Tretmühle bewegt, immer wieder hatten sie dieselben Dinge gedacht, dabei war ihr Geist zusammengeschnurrt und allmählich erloschen.
Claudius’ Ankunft hatte alles verändert, hatte sie alle aus der Bahn geworfen. Weit weg, auf dem mondbeschienenen Wasser, winkte ein vertrauter Geist aus einem Ruderboot heraus. Er winkte und winkte.
Mercy wollte sich allein zur Kapelle davonstehlen, aber Galatea war anscheinend fest entschlossen, nicht wieder in die Nähe des Gebäudes zu kommen. Entgegen aller Hoffnung wünschte Mercy, sie würde Claudius treffen, damit sie ihn fragen konnte, was er gemeint hatte. Wenn Galatea nicht mit ihnen zur Kapelle ging, würde sie die Nachricht für Claudius irgendwo anders hinterlassen müssen – an einem verschwiegenen Ort, fern von Galateas spitzelnden Blicken. Das Bootshaus, erinnerte sie sich dunkel, war nicht weit weg, es lag gleich hinter den Kastanienbäumen.
Während Charity mit Galatea plauderte, machte Mercy sich allein davon. Natürlich war es dumm zu denken, dass Claudius wie durch Zauberei auf sie warten würde, dennoch beeilte sie sich. Die Kastanien standen auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel. Die Bäume waren viel höher und mächtiger als in ihrer Erinnerung. Dahinter hockte das Bootshaus auf Pfählen über dem Wasser. Sie ging die Rampe auf der zum Land weisenden Seite hinauf und ruckte an der Bogentür. Verschlossen. Mercy seufzte und trat zurück. Das Bootshaus hatte einen neuen Anstrich nötig. Die Pfähle waren schwarz und morsch. Hier und da waren Planken verzogen oder vermodert.
Mercy nahm den Zettel aus ihrer Tasche. Sie hatte das Papier gefaltet und einen Namen darauf geschrieben. Es war dumm, es hier zu lassen. Aber wegen der Kirche war Galatea bereits argwöhnisch. Und wenn Claudius sie beobachtete, würde er den Brief schon finden.
»Mercy! Wo bist du?«, brüllte Charity. Schnell schob Mercy den Zettel unter die Bootshaustür, sodass er noch halb herausschaute. Dann lief sie durch den Kastanienhain zurück zu Charity, die auf sie wartete.
»Wo ist Galatea?«, fragte Mercy.
»Sie ist vorgegangen, zurück zum Haus. Sie sucht dich. Wo warst du?«
»Nirgendwo.« Mercy zuckte die Achseln. »Ich habe mir nur den See angeschaut.«
»Komm«, drängte Charity. »Wir holen sie ein, ehe sie ärgerlich wird.«
Dann rannten sie los, auf das Haus zu, aber Charity wurde schnell müde, und so gingen sie schon bald langsamer weiter.
»Galatea hat gesagt, dass wir heute Abend alle gemeinsam essen werden, auch Vater wird dabei sein«, sagte Charity.
»In der Küche?«
»Nein, sei nicht albern, im Speisezimmer.«
»Das Speisezimmer«, flüsterte Mercy, sie erinnerte sich an eine Unmenge Kerzen und an das Tafelservice. »Warum?«, sagte sie.
»Vielleicht möchte Vater mit ihr speisen«, sagte Charity.
»Das glaube ich nicht. Warum ändert er etwas? Ich dachte, er wollte keine Störungen.«
»Galatea hat gesagt, er möchte uns im Auge behalten – und herausfinden, was vor sich geht. Vielleicht möchte er mit uns reden. Und mit Galatea. Wie in einer Familie.«
Mercy nagte an der Innenseite ihrer Wange. Warum konnte Charity denn nicht ernst bleiben, warum musste ihre Schwester sie die ganze Zeit mit Trajan und Galatea aufziehen? War sie denn wegen der eingetretenen Veränderungen und der Warnungen ihres Vaters nicht besorgt?
Selbstverständlich gehörten Galatea und Aurelia zur Familie. Beide kamen aus Italien und trugen den Namen Verga, aber sie waren ärmere Verwandte, die deshalb als Dienstboten leben mussten. Aurelia mochte die beiden Töchter des Hauses liebhaben, dennoch hatte sie den Anordnungen des Hausherrn Folge zu leisten. Dasselbe galt für Galatea. Vielleicht war es nun an der Zeit, dass Mercy ihrer Schwester diesen nervtötenden Unsinn über eine Romanze zwischen Trajan und der Gouvernante ausredete
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