Das Haus der kalten Herzen
und sie dafür einspannte, mehr über ihre Mutter herauszubekommen. Allerdings barg das ein Risiko, denn Charity war ziemlich impulsiv, doch Mercy sehnte sich so danach, ihre Gedanken mit jemandem teilen zu können. Sie holte tief Luft.
»Und was ist mit Mutter?«, sagte sie. Das Wort schien zwischen ihnen hängen zu bleiben.
»Mutter?«, wiederholte Charity. »Was soll mit ihr sein?«
»Weißt du, wo sie ist?«
»Sie ist gestorben. Als wir noch klein waren. Worauf willst du hinaus?«
»Und wo ist sie beerdigt? In der Kapelle? Erinnerst du dich an die Beerdigung? Wenn wir auch klein waren, zur Beerdigung unserer eigenen Mutter hätten sie uns doch sicherlich mitgenommen? Und wie ist sie gestorben? Alt war sie nicht.«
Charity zog die Stirn kraus. »Ich erinnere mich nicht«, sagte sie.
Kühn machte Mercy weiter. Sie wagte den Sprung ins kalte Wasser. »Claudius hat mir erzählt, ich könne sie wiedersehen.«
»Claudius? Der Geist aus der Kirche?«
»Er war kein Geist. Das habe ich dir doch schon erzählt.«
Sie gingen nun enger nebeneinander her.
»Erinnerst du dich an ihr Gesicht?«, fragte Mercy jetzt ganz eifrig. »Kannst du es in deinem Geist heraufbeschwören?«
Charity schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich kann mich an ein Gefühl erinnern. Das ist alles.«
»Nicht mal das kann ich. Findest du das nicht auch merkwürdig?«
Charity wirkte verblüfft. Schweigend gingen sie weiter. Charity wandte das Gesicht von ihrer Schwester ab, sie schottete sich ab. Als sie Minuten später wieder etwas sagte, waren Tränen in ihrer Stimme.
»Warum musstest du mich dazu bringen, an Mutter zu denken?«, sagte sie. »So lange habe ich nicht an sie gedacht. Ich wusste nicht mal mehr, dass ich sie vermisse.«
Mercy ließ nicht locker. »Erinnerst du dich an die Beerdigung?«, wiederholte sie.
Charity schaute auf den Boden und schüttelte den Kopf. »Ich kann mich an nichts von ihr erinnern«, sagte sie. »Das ist doch nicht richtig so, oder? Sie ist unsere Mutter. Warum denken wir nicht an sie, warum reden wir nicht über sie?«
»Und wenn sie nun gar nicht tot ist?«, beharrte Mercy.
»Wir müssen es herausfinden«, sagte Charity. »Wir müssen es wissen. Beim Abendessen heute – mit Vater. Da wird er nicht ausweichen können. Da frage ich ihn. Ich will es wissen.«
Ehe Mercy antworten konnte, war Charity schon wieder losgerannt. Mercy rief ihr hinterher, aber Charity beachtete sie gar nicht.
Im Haus schloss Charity sich dann gleich in ihrem Zimmer ein und wollte die Tür nicht aufmachen, auch nicht, als Mercy klopfte und ihr gut zuredete.
Mercy setzte sich auf ihr eigenes Bett und machte sich Sorgen. Was würde Charity sagen? Es war wirklich dumm von ihr gewesen, sie ins Vertrauen zu ziehen und alles aufzurühren. Ziemlich verzweifelt raufte Mercy sich die Haare. Sie fürchtete sich vor Trajans Reaktion.
Sie speisten erst spät. Galatea holte Mercy ab. Aurelia war gerufen worden, um ihr ein festliches Kleid anzuziehen und das Haar aufzustecken. Charity wartete in Galateas Flügel, an der Seite der Gouvernante, und war peinlichst darauf bedacht, Mercys stumme Bitten nicht zu bemerken.
Wie blass Charity aussah. Ihre Augen waren rot, als ob sie geweint hätte. Mercy überkam ein unangenehmes Schuldgefühl, weil sie ihre Schwester mit Fragen nach ihrer Mutter verstört hatte.
Aurelia hatte vier Plätze an einem Ende der langen Tafel im Speisezimmer eingedeckt. Trajan erwartete sie in einem Rock mit langen Schößen, der nicht ganz so abgetragen, jedoch staubiger als seine übliche Kleidung war. Er hatte sich das Haar aus dem Gesicht gebürstet. Seine Hände ragten sehr dünn und sauber aus ausgefransten Seidenmanschetten. Rote Manschettenknöpfe, Rubine vielleicht, funkelten im Kerzenschein.
»Setzt euch, setzt euch«, sagte er. Mercy fand, er wirkte nervös, so als fühlte er sich unbehaglich.
Sie speisten zartes Roastbeef und Bratkartoffeln. Die Mädchen durften ein wenig am Rotwein nippen. Die Stimmung war gedrückt. Galatea redete mit Trajan über das Leben in der alten Heimat. Mercy verstand überhaupt nichts. Sie hätten auch gleich über eine ganz andere Welt reden können. Dann fing Charity an, über den Unterricht zu plappern. Mercy brütete schweigend vor sich hin und stocherte im Essen. Dabei beobachtete sie Galatea genau. Die Situation fühlte sich völlig verkehrt an. Ohne all diese seltsamen Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, war es leicht gewesen, die Tage im
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