Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Schlaksig, unbeholfen und zugleich aufgeregt und zittrig, kam sie auf Jac zu und streckte ihr ein Exemplar ihres Buches
Den Mythen auf der Spur
entgegen.
»Würden Sie mir ein Autogramm geben, Miss L’Étoile?«
Jac hatte ihr Buch gerade im Studio in einer Talkshow vorgestellt, doch sie war alles andere als eine Prominente. Ihre eigene Fernsehsendung, die ebenfalls
Den Mythen auf der Spur
hieß und in der sie nach den Ursprüngen mythologischer Geschichten und Gestalten forschte, hatte weniger als eine Million Zuschauer. Eine Begegnung mit einem Fan war daher eine freudige Überraschung.
Die Limousine, die Jac bestellt hatte, stand bereits an der Straßenecke, und der Chauffeur wartete an der Beifahrertür. Doch sie durfte sich ruhig ein wenig verspäten. Wo sie jetzt hinwollte, warteten nur die Geister der Vergangenheit auf sie.
»Wie heißt du?«, fragte Jac.
»Maddy.«
Jac bemerkte das leichte, zitrusfrische Parfüm des Mädchens. Junge Frauen und Zedernfrüchte fanden eben immer wieder zueinander. Sie kramte ihren Füllfederhalter hervor und begann zu schreiben.
»Manchmal tut es so gut, zu wissen, dass es echte Helden gibt«, murmelte Maddy ehrfürchtig. »Dass Menschen unglaublich viel erreichen können.«
Ein lauter, überfüllter Gehweg gegenüber der Radio City Music Hall mochte nicht der passendste Ort für persönliche Bekenntnisse sein, doch Jac nickte und lächelte Maddy komplizenhaft zu.
Sie hatte diese Sehnsucht selbst nur allzu gut gekannt. Als Jac damit begonnen hatte, die Ursprünge von Mythen zu erforschen – weltweit antike Bauwerke zu besichtigen, Museen, Sammlungen und Bibliotheken zu kontaktieren, Spuren längst versunkener Kulturen aufzustöbern –, war es ihr darum gegangen, ihr Publikum zu unterhalten und zu bilden. Nur deshalb hatte sie nach den Fakten hinter der heroischen Fiktion und nach den normalsterblichen Vorbildern von Riesen und Legenden gesucht. Jac wies nach, dass gefeierte Heldentaten oft kleine, unbedeutende Handlungen oder sogar Zufälle gewesen waren. Sie deckte auf, dass der tragische Tod mythologischer Gestalten in Wirklichkeit selten eindrucksvoll und symbolisch ausfiel. Stattdessen überhöhten die Überlieferer der Legenden die Realität zu einer lehrreichen, inspirierenden Fabel.
Es ging ihr darum, Mythen zu entzaubern, sie auf das Normalmaß zurechtzustutzen. Doch tatsächlich erreichte sie das Gegenteil.
Der Nachweis, dass Mythen überhaupt reale Vorbilder hatten, dass es die antiken Helden, Götter, Parzen, Furien und Musen in irgendeiner Form wirklich gegeben hatte, schenkte ihren Lesern und Zuschauern Zuversicht.
Deshalb schrieben sie Fanpost und Dankesbriefe an Jac, deshalb hatte sie bereits seit zwei Jahren ihre eigene Fernsehshow, und deshalb gab es Teenager wie Maddy, die ein Autogramm von ihr wollten.
Und genau deshalb fühlte Jac sich wie eine Betrügerin.
Sie wusste, dass der Glaube an Helden einem das Leben retten konnte, doch er konnte ebenso gut alles zerstören. Das erzählte sie Maddy nicht. Stattdessen setzte sie ihre Unterschrift unter die Widmung, gab ihr dankend das Buch zurück und stieg in die bereitstehende Limousine.
Eine Dreiviertelstunde später erkannte Jac an dem satten Aroma von Tannen und frisch erblühten Judasbäumen, dass sie den Sleeping Hollow Cemetery erreicht hatten, einen Friedhof im fruchtbaren Hudson River Valley. Als sie von ihrer Lektüre aufblickte, tauchte gerade das große schmiedeeiserne Eingangstor vor ihnen auf.
Während der Wagen durch das Tor und den Kiesweg hinunterrollte, löste Jac das Haarband, das ihre störrischen Locken im Zaum hielt, und umschlang sie von neuem. Einmal, zweimal. Seit ihrer Kindheit sammelte sie Haarschleifen und besaß sie kistenweise: Bänder aus zartem Satin, aus festem Ripsband, aus Samt, Moiré und Jacquard, die sie oft in Antiquitätenläden und Wühlkisten fand. Von diesem Band aus schimmerndem Satin hatte sie sieben Meter auf einer stockfleckigen Spule ergattert, die mit »Memorial Black« beschriftet gewesen war.
Der Chauffeur fuhr den Hauptweg hinunter bis zur ersten Gabelung und bog rechts ab. Jac hielt nach dem vertrauten Dachkreuz aus Granit Ausschau, während sie an langen Reihen von Grabsteinen, Kapellen und Statuen vorüberglitten, und brachte ihren langen weißen Schal in Ordnung.
Seit hundertsechzig Jahren wurden alle Mitglieder der Familie ihrer Mutter auf diesem verwilderten viktorianischen Friedhofauf einem Felsmassiv über dem Pocantico River
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