Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
ließ seinen Umhang fallen, ergriff ihre Hand und half ihr auf, um sie in Sicherheit zu bringen, nur fort von diesem Fluss.
Ein Schrei ertönte. Jemand prallte gegen ihn. Ein Tongefäß zerbrach laut krachend auf dem Alabasterboden. L’Étoile war wieder in der Grabkammer, und statt des melancholischen Antlitzes der fremden Frau sah er Abu vor sich, der eine Papyrusrolle umklammert hielt und fassungslos auf die Scherben des Tontiegels starrte.
Der Geruch hatte alle Männer in Trance versetzt, und L’Étoile war als Erster wieder daraus erwacht. Um ihn herum herrschte Chaos. Alle flüsterten, schluchzten, schrien oder lallten in Sprachen, die L’Étoile nicht verstand. Sie schienen mit unsichtbaren Dämonen zu kämpfen, verborgene Feinde zu bezwingen oder mit Gefährten zu sprechen, die nur sie selbst sahen.
Was war mit ihm geschehen? Und was geschah mit seinen Gefährten?
Einer der jungen Ägypter saß lächelnd an die Wand gelehnt vor ihm und sang in einer altertümlichen, fremden Sprache ein Lied. Ein anderer lag wimmernd am Boden, und noch einer wehrte einen unsichtbaren Angreifer ab. Zwei der Wissenschaftler schauten den anderen nur entsetzt zu. Saurent kniete betend auf dem Alabasterboden und rezitierte mit entrücktem Gesicht eine lateinische Messe. Der Kartograph trommelte mit den Fäusten auf eine Wand ein und rief wieder und wieder den Namen eines Mannes.
L’Étoile sah zu Napoleon hinüber. Der General stand wie erstarrt neben dem Sarkophag und blickte durch die Wand wie in eine unendliche Ferne. Er wirkte blasser als sonst, und Schweiß stand ihm auf der Stirn, als sei er krank.
Es gab Düfte, die Krankheiten heilen konnten, und andere, die dem Körper schadeten. Gifte, die betörend rochen und ihren Opfern den Atem raubten. L’Étoiles Vater hatte ihn alles darüber gelehrt und ihn vor den Gefahren gewarnt. Daher fürchtete er jetzt um sich selbst, um den Feldherrn und seine Begleiter. Waren sie einem jahrtausendealten Gift zum Opfer gefallen?
Er musste handeln. Rasch griff er nach einer kleinen goldenen Truhe auf einem Stapel von Grabbeigaben, leerte ihren Inhalt – Gold und Glassteine – auf den Boden und legte das intakte Tongefäß hinein. Dann kehrte er mit der Hand die Scherben des anderen zusammen, das der General hatte fallen lassen, legte sie dazu und schloss den Deckel.
Der Duft war noch immer durchdringend, doch jetzt, da die Parfümbehälter weggeschlossen waren, wurde er allmählich schwächer. L’Étoile beobachtete, wie die Männer einer nach dem anderen wieder zu sich kamen und um ihre Fassung rangen.
Plötzlich stürzte Napoleon zu Boden, und der hölzerne Sargdeckel zersplitterte krachend unter seiner Last. Der Parfümeur kannte die Gerüchte, nach denen der General wie schon sein großes Vorbild Julius Cäsar unter der Fallsucht litt. Jetzt schüttelten Krämpfe den Körper des Feldherrn, und Schaum stand ihm vor dem Mund.
Sein Adjutant eilte herbei und beugte sich über ihn.
Hatte das Parfüm diesen Anfall ausgelöst? L’Étoile hatte es jedenfalls sehr zugesetzt. Das Schwindelgefühl und die Benommenheit, die ihn beim Betreten der Kammer befallen hatten, ließen erst jetzt allmählich nach.
»Dieser Ort ist verflucht!«, schrie Abu und warf die Papyrusrolle in den Sarg zurück, wo sie auf den beiden entblößten Leichnamen zu liegen kam. »Wir müssen hier raus!« Er rannte zur Tür hinaus und den Flur entlang.
»Das Grab ist verflucht!«, echoten die jungen Arbeiter mitbebenden Stimmen und stürzten Hals über Kopf, einander in der Hast beiseite stoßend, zum Ausgang.
Napoleons Experten folgten ihnen.
Der Adjutant half seinem General, der inzwischen wieder bei Sinnen war, behutsam auf die Beine und führte ihn ebenfalls hinaus. Nur L’Étoile blieb in der Grabkammer des Parfümeurs und seiner im Tod vereinten Geliebten zurück.
Er beugte sich über das Paar, nahm die Papyrusrolle, die Abu in den Sarg geworfen hatte, legte sie zu den Tongefäßen in die kleine Truhe und verstaute die Truhe tief unten in seinem Tornister.
Zwei
NEW YORK CITY, GEGENWART
DIENSTAG, 10. MAI, 8:05 UHR
Als Jac L’Étoile vierzehn Jahre alt war, hatte die Mythologie ihr das Leben gerettet. Sie erinnerte sich noch genau an damals, besonders an das, was sie am liebsten vergessen hätte. Gerade das stand ihr natürlich am deutlichsten vor Augen.
Das Mädchen, das sie jetzt vor dem Fernsehstudio auf der West 49th Street erwartete, konnte kaum älter als vierzehn sein.
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