Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Sarkophag aus Granit war fünfmal so groß wie ein durchschnittlicher Mensch. In seine polierte Oberfläche waren Schriftfelder eingemeißelt, und eine Einlegearbeit aus Türkisen und Lapislazuli stellte einen wunderschönen, katzenhaften Jüngling dar, dessen Kopf von blauen Seerosenblüten umgeben war. L’Étoile erkannte ihn sofort. Es war Nefertem, Sohn der Isis, der Schutzgott des Parfüms.
Plötzlich ergaben die auf den Wänden dargestellten Szenen, die Seerosen, die Rauchfässchen in allen Ecken des Raums einen Sinn. Dies war das Grab eines altägyptischen Parfümeurs. Und nach dem Prunk zu urteilen, der ihn umgab, musste er ein sehr angesehener Priester gewesen sein.
Saurent rief seinen jungen Arbeitern Befehle zu, und mit einiger Mühe gelang es ihnen, den steinernen Deckel zu heben. Darunter kam ein breiter hölzerner Sarg zum Vorschein, auf dem wieder dieselben zwei Gestalten abgebildet waren wie auf den Wandgemälden. Diesen Sarg öffneten sie ohne größere Schwierigkeiten.
Darin lag eine unförmige, merkwürdig große Mumie von normaler Länge, aber viel breiter als gewöhnlich, die mit Erdpech aus dem Toten Meer bestrichen war. Statt einer trug sie zwei goldene Totenmasken. Zu beiden gehörten je ein Kopfputz aus Türkisen und Lapislazuli und eine mit Karneol, Gold und Amethyst besetzte Brustplatte. Sie unterschieden sich nur darin, dass eine von ihnen männlich und die andere weiblich war.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, stieß Abu hervor.
»Was bedeutet das?«, fragte Napoleon.
»Ich weiß es nicht,
mon Général
. Das hier ist äußert ungewöhnlich«, stammelte Abu.
»Saurent, wickeln Sie ihn aus«, befahl der General.
Obwohl Abu heftig protestierte, befahl Saurent den jungen Ägyptern, die Leinenbinden aufzuschneiden. Da der Franzose ihr Lohnherr war, gehorchten sie. L’Étoile wusste schon, was ihn erwartete: Die alte Kunst des Einbalsamierens mit duftenden Ölen und Salben und die trockene Luft in der Grabkammer würden verhindert haben, dass das Muskelgewebe des Verstorbenen verweste. Vielleicht wäre sogar sein Haar noch erhalten. Er hatte schon mehrere Mumien gesehen und war jedes Mal von ihrem schweren Duft fasziniert.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, die schwärzlichen Stoffbahnen zu durchtrennen und beiseite zu schieben.
»Nein. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen«, flüsterte Abu.
Der linke der beiden Leichname hatte seine Arme nicht, wie sonst üblich, vor der Brust gekreuzt, sondern sein rechter Arm war nach der Hand einer Frau ausgestreckt, die mit ihm gemeinsam einbalsamiert worden war. Ihre linke Hand lag in seiner rechten. Die zwei Liebenden wirkten so lebensnah, ihre Körper so unversehrt, als seien sie erst vor Monaten, nicht vor Hunderten von Jahren beerdigt worden.
Den Umstehenden stockte der Atem beim Anblick dieses im Tod vereinten Liebespaars, doch L’Étoile war nicht so sehr von dem überwältigt, was er sah. Hier, in diesem Sarg, lag die Quelle jenes Dufts, der ihn so magisch anzog, seit er die Leiter hinabgestiegen war.
Wieder bemühte er sich, die ihm bekannten Bestandteile des Dufts von den fremdartigen Nuancen zu trennen, jenen geheimnisvollen Zutaten, die einen Hauch von Hoffnung verbreiteten, von langen Nächten, sinnlichen Träumen, von Verlangen und seiner Erfüllung. Eine Ahnung von dem Versprechenewiger Treue, von der Wiedervereinigung zweier verlorener Seelen.
Tränen traten dem Parfümeur in die Augen. Das war es, was er sein Leben lang hatte erschaffen wollen. Was er hier mit jedem Atemzug in sich aufsog, war Duft gewordene Emotion. Giles L’Étoile roch die wahre Liebe.
Er war der Verzweiflung nah. Was verlieh diesem Duft seine Komplexität? Warum war er so schwer zu fassen? Wieso ließen sich seine Bestandteile nicht auseinanderhalten? Über fünfhundert Gerüche hatte L’Étoile sich im Lauf der Jahre eingeprägt. Welche von ihnen enthielt diese Komposition?
Gäbe es doch eine Maschine, die den Duft in sich aufnehmen und in seine Bestandteile zerlegen könnte! Über diese Vorstellung hatte er vor langer Zeit mit seinem Vater gesprochen. Jean-Louis hatte sie verächtlich beiseite gewischt, wie die meisten Ideen und Erfindungen seines Sohnes, und ihn dafür gescholten, dass er seine Zeit mit unnützen Phantastereien und romantischen Vorstellungen vertat.
»Düfte wecken Gefühle, Papa«, hatte L’Étoile ihm entgegengehalten. »Stellen Sie sich nur vor, wie reich wir werden könnten, wenn wir den Menschen nicht bloß
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