Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Eins
ALEXANDRIA, ÄGYPTEN, 1799
Giles L’Étoile war ein Meister der Düfte, kein Dieb. Er hatte nie etwas gestohlen, bis auf das Herz einer einzigen Frau, und die hatte ihm immer versichert, sie habe es ihm freiwillig gegeben. Doch an diesem kühlen Abend in Ägypten trug ihn jeder einzelne seiner zögerlichen Schritte auf der klapprigen Leiter, die in die uralte Gruft hinabführte, einem Verbrechen entgegen.
Vor L’Étoile waren schon ein Forscher, ein Ingenieur, ein Architekt, ein Künstler, ein Kartograph und natürlich der General selbst die Stufen hinabgestiegen – lauter Spezialisten aus Napoleons Armada von Wissenschaftlern und Gelehrten, die sich jetzt anschickten, ein seit Jahrtausenden unberührtes Grab zu entweihen. Ein paar Tage zuvor hatten der Forschungsreisende Émile Saurent und seine jungen ägyptischen Helfer die Gruft entdeckt und die Grabungen eingestellt, sobald die versiegelte steinerne Tür freigelegt war. Nun sollte dem neunundzwanzigjährigen Napoleon das Privileg zukommen, als Erster zu sehen, was seit Tausenden von Jahren im Verborgenen lag. Es war allgemein bekannt, dass der General Hoffnungen hegte, Ägypten zu erobern. Doch seine Ambitionen gingen über militärische Siege weit hinaus: Unter seiner Ägide wurde auch die Geschichte des Landes erforscht und zu Papier gebracht.
Am Fuß der Leiter fand sich L’Étoile mit den anderen in einem matt erleuchteten Vorraum wieder. Er sog die Luft ein und registrierte den Geruch von Gipsstaub, abgestandene Luft, die Ausdünstungen der Arbeiter und den Hauch eines unbekannten Dufts, der fast zu schwach war, um ihn wahrzunehmen.
Vier rötliche Granitsäulen ragten aus dem Schutt und stützten ein Deckengewölbe, das mit einer Sternkarte in Lapislazuli und Silber bedeckt war. In die Wände waren mehrere Türen eingelassen. An der größten von ihnen hatte Saurent bereits begonnen, den Mörtel herauszubrechen, mit dem sie versiegelt war.
Die Wände des Vorraums waren mit kunstvollen, detaillierten Wandbildern verziert. Ihre Erd- und Ockertöne waren so leuchtend, dass L’Étoile fast erwartete, die frische Farbe riechen zu können, doch stattdessen stieg ihm Napoleons Eau de Cologne in die Nase. Besonders interessierte sich der Parfümeur für die stilisierten Seerosen, mit denen die Türen und Bilder eingerahmt waren. Die Ägypter nannten diese Pflanze den Blauen Lotus und nutzten ihre Extrakte seit Jahrtausenden für ihre Parfüms. L’Étoile, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits seit fast einem Jahrzehnt mit der hochkomplexen, altehrwürdigen ägyptischen Parfümeurstradition befasste, kannte diese Blume und ihre Eigenschaften genau. Ihr Duft war betörend, doch was sie wirklich von allen anderen unterschied, waren ihre halluzinogenen Eigenschaften. Er hatte sie am eigenen Leib erfahren und wusste sie zu schätzen, wenn sich wieder einmal die Vergangenheit in seine Gegenwart drängen wollte.
Die Blaue Lotusblume war nicht das einzige pflanzliche Motiv in den Wandgemälden. Im ersten Bild holten Arbeiter Saat aus einem Lagerraum und säten sie im zweiten aus. Im nächsten pflegten sie die Keimlinge, Blumen und Bäume und ernteten im darauffolgenden Bild die Blüten, Zweige, Kräuterund Früchte. Zu guter Letzt sah man, wie sie ihre Ausbeute einem Mann zu Füßen legten, von dem L’Étoile annahm, dass er der Verstorbene war.
Mehr und mehr Mörtel bröckelte auf den Alabasterboden, und Abu, der von Saurent angeheuerte Führer, erklärte den Umstehenden, was sie vor sich sahen. Seine Ausführungen waren interessant, doch L’Étoile fühlte sich von dem Schweißgeruch, dem brennenden Kerzenwachs und dem Staub schier überwältigt und sah besorgt zu Napoleon hinüber. So sehr er als Parfümeur auch litt, für den General, das wusste L’Étoile, musste es weit schlimmer sein. Napoleon reagierte so sensibel auf Gerüche, dass er manche Bediensteten, Soldaten oder Frauen, deren Duft ihm zuwider war, nicht in seiner Nähe ertrug. Man erzählte sich von seiner Obsession für ausgiebige Bäder und für Eau de Cologne – seine persönliche Mixtur aus Zitrone und Zedernfrucht, Bergamotte und Rosmarin. Der General hatte eigens Kerzen aus Frankreich kommen lassen, die auch jetzt den Vorraum erhellten und deren Wachs aus kristallisiertem Pottwaltran weniger unangenehm roch.
Diese Obsession Napoleons war einer der Gründe, warum L’Étoile noch immer in Ägypten war. Der General hatte ihn gebeten, ihm als Parfümeur zur
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