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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hervor.
    Jupiter zögerte. Bevor er den Griff ganz herumdrehte, fragte er: »Wer weiß davon?«
    »Nur du, die Shuvani und ich.«
    »Deine Vorgesetzten?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht einmal der Priester. Er kommt niemals hier herauf. Und die Vorprüfung mache ich allein, es gibt keine Kollegen. Die meisten Restaurationsarbeiten in Rom brennen auf Sparflamme. Die Großbaustelle am Petersdom hat allen anderen in den letzten Jahren die Finanzierung weggefressen.«
    »Und warum die Geheimnistuerei?«
    Sie lächelte, aber sie schien jetzt nicht mehr ganz so unbekümmert wie zuvor. Coralina hatte etwas herausgefunden, das ihr Sorgen bereitete. Etwas, worüber sie mit ihm reden wollte.
    »Dreh den Griff herum«, verlangte sie.
    Jupiters Hand vollendete die Drehung, und das Knirschen verstummte schlagartig. Er zog an dem Griff, ohne Erfolg. Erst als er mit seiner linken Hand gegen das Relief drückte, rührte sich etwas. Die gesamte Rückseite der Vertiefung schwang nach innen.
    Dahinter war Dunkelheit. Die Luft war kühl und roch abgestanden, obgleich diese Tür in den vergangenen zwei Tagen gewiß mehr als einmal von Coralina geöffnet worden war. Jupiter wußte genau, was sie gespürt hatte, die unbeschreibliche Anspannung vor einer Entdeckung, die spektakulär und großartig, vielleicht aber auch gering und unbedeutend sein mochte. Es war dieser kurze Zeitraum der Ungewißheit, jener Moment des Abwartens, Luftanhaltens, des Verlangens nach endgültiger Erkenntnis. Jupiter hatte solche Augenblicke wieder und wieder erlebt, bei jedem verschollenen Gemälde, jeder verlorenen Skulptur, die er irgendwo auf der Welt aufgespürt hatte, in Museumsarchiven, Privatsammlungen und zweimal sogar auf den Dachböden verlassener Scheunen im Nirgendwo.
    Coralina lenkte den Strahl der Lampe in die Dunkelheit jenseits der Relieftür.
    Die Geheimkammer war überraschend groß. Jupiter versuchte vergeblich, ihre Lage innerhalb der Kirchenfassade einzuordnen. Sie mußte unglaublich geschickt in die äußere Struktur des Bauwerks eingearbeitet sein, unauffällig und seit Jahrhunderten übersehen.
    Jupiter warf einen Blick zurück über die Schulter und grinste. »Du solltest das wirklich jemandem melden.«
    Coralina deutete voraus ins Dunkel. »Hereinspaziert.«
    Er schaute durch den schmalen Spalt zwischen Gerüst und Wand nach unten, sah Staub, der sanft in die Tiefe rieselte, und machte schließlich einen weiten Schritt über den Abgrund. Einen Augenblick später trat er durch die offene Relieftür ins Innere der Kammer. Coralina war sogleich neben ihm und ließ das Licht des Strahlers umherwandern.
    Vom Gerüst aus hatte der Raum tiefer gewirkt, als er es tatsächlich war. Nach zwei Schritten erreichten sie die rückwärtige Wand; sie war unverputzt, aber trocken. Jupiter konnte deutlich Coralinas Fußabdrücke im Staub sehen. Sie hatte augenscheinlich jeden Winkel der Kammer untersucht, hatte Wände, Decke und Boden abgeklopft.
    »Was ist das?« fragte er und schaute sich um.
    Coralina gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dem Lichtkegel ihrer Lampe zu folgen. Das Licht wanderte langsam über die Rückwand, und jetzt erkannte Jupiter, was sie meinte.
    Einige der vertikalen Fugen in der Mauer waren breiter als die übrigen. Sie bildeten Schneisen im Gestein, sechzig oder siebzig Zentimeter hoch. Von hinten fiel kein Licht herein, demnach reichten sie nicht bis hinaus zur Fassade.
    In jeder dieser Schneisen steckte etwas, das auf den ersten Blick wie Tuch aussah, mit dem jemand die Öffnungen behelfsmäßig abgedichtet hatte. Jupiter streckte vorsichtig einen Finger aus und berührte das Material. Es fühlte sich an wie hart gewordenes Fensterleder.
    Als er sich nach Coralina umschaute, fuchtelte sie mit dem Strahler vor seinem Gesicht herum. »Ich hab wieder alles genau so hergerichtet, wie ich es gefunden habe. Ich wollte, daß du es im Urzustand siehst.«
    Er wandte sich wieder den Schneisen zu. Ohne jede einzelne zu zählen, schätzte er, daß es etwa siebzehn oder achtzehn davon gab. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er an dem Leder, ließ es dann jedoch abrupt wieder los.
    Seine Scheu amüsierte Coralina. »Es ist keine Menschenhaut.« Sie kicherte wie ein Teenager nach einem besonders makabren Scherz.
    »Auch wenn das gut zur Situation passen würde, nicht wahr?«
    »Du hast sie untersuchen lassen?«
    »Natürlich. Gegerbtes Kalbsleder, recht gut verarbeitet und auf einer Seite mit einer wasserabweisenden Flüssigkeit

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