Das Haus des Daedalus
beide wußten, was in dem anderen vorging.
Ein paar Blumen lagen am Fuß des Grabes, keine Kränze. Jupiter beugte sich mühsam vor, stützte sich dabei auf seine Krücke und legte einen Strauß auf die Erdkuppe. Kurz verharrte er in dieser Position, ohne Coralinas Hand loszulassen, dachte an Miwas Gesicht, an die Ereignisse im Johannesturm, den fassungslosen Glanz in ihren Augen, dann den trüben Schleier, verschwommen, blutig »Alles in Ordnung?« fragte Coralina leise.
»Ja«, sagte er, und ein zweites Mal, fester, entschiedener: »Ja.«
Sie ließ ihm Zeit, Abschied zu nehmen. Alle Zeit, die er benötigte.
»Wenn du einen Moment allein sein möchtest«, begann sie, doch er schüttelte den Kopf.
»Es geht schon.« Er richtete sich wieder auf und legte einen Arm um ihre Taille. Er wollte etwas sagen, als ein dritter Schatten auf den Grabhügel fiel.
Als sie sich umwandten, stand Schwester Diana hinter ihnen, die Äbtissin des Monastero Mater Ecclesiae. Sie hatte gezögert, mit ihnen zum Grab zu gehen. Sie wolle lieber am Eingang des Friedhofs warten, hatte sie gesagt. Jetzt aber bückte sie sich, nahm die Blumen vom Fuß des Grabes und legte sie neben Jupiters Strauß.
»Danke«, sagte er, »daß Sie sich um alles gekümmert haben.«
»Es ist unsere Aufgabe, auch für die Toten zu sorgen«, entgegnete sie leise, »nicht allein für die Lebenden.«
»Die Platte«, setzte er an, wurde aber von der Äbtissin unterbrochen: »Liegt in Signorina Akadas Sarg, so wie Sie es gewünscht haben. Niemand sonst hat mehr Verwendung dafür.«
Als die beiden nichts erwiderten, blickte sie zum ersten Mal auf und schaute Coralina ins Gesicht. »Und der Schlüssel?«
»Im Tiber. Wo der Schlick und der Morast am tiefsten sind.«
Diana seufzte, und es klang sehr erleichtert.
Jupiter schaute wieder auf den braunen Erdhügel und das Kreuz.
»Sie ist für nichts gestorben. Völlig umsonst.«
»Sie hat Ihr Leben gerettet«, widersprach die Nonne.
Jupiter löste seinen Blick von dem Grab. Es fiel ihm schwer, etwas zu sagen, auch nur annähernd die richtigen Worte zu finden.
»Wann verlassen Sie Rom?« fragte Diana.
»Noch heute.«
Ein Windstoß fegte über den Friedhof, empfindlich kalt und schneidend. Coralina drückte sich enger an Jupiter.
Die Äbtissin schüttelte ihnen die Hand und beobachtete, wie sie langsam davongingen, Jupiter humpelnd, ungeübt im Umgang mit der Krücke, »Noch eine Frage!« rief sie ihnen hinterher.
Die beiden blieben stehen und schauten sich um.
»Bedauern Sie es?«
»Was?«
»Bedauern Sie, daß Sie es nicht gesehen haben?« fragte die Äbtissin. »Das Ende der Treppe.«
Jupiter überlegte kurz, dann sagte er: »Pascale hat es gesehen. Ich schätze, das muß reichen.«
Der Blick der Äbtissin richtete sich in die Ferne. »Man wird nie endgültig wissen, ob er halluziniert oder die Wahrheit sagt.«
»Nein«, sagte Coralina.
»Nein?« fragte Diana.
»Ich bedaure es nicht. Das wollten Sie doch wissen.«
Die Äbtissin lächelte sanft. »Guten Flug. Und leben Sie wohl.«
Coralina hob zum Abschied die Hand, dann führte sie Jupiter zur Straße.
Als sie fort waren, faltete Diana die Hände. Über dem Grab sprach sie ein Gebet und schlug das Kreuzzeichen.
Ein zweiter Windstoß fegte in die Blumen, löste ein Blütenblatt und trieb es gegen das Holzkreuz, gleich neben Miwas Namen. Dort blieb es haften wie festgenagelt.
Die Nonne wandte sich ab und ging mit langsamen Schritten zum Ausgang.
Nachwort des Autors
Die Carceri gelten, neben den Antichitä Romane, als bedeutendstes Werk Giovanni Battista Piranesis. Sie haben zahlreiche Generationen von Künstlern inspiriert, von Schriftstellern wie Thomas De Quincey, Jörge Luis Borges und Horace Walpole über Zeichner wie M. C. Escher und Alfred Kubin bis hin zu den großen Filmemachern Fritz Lang und Sergej Eisenstein. Welchem Abgrund Piranesis bedrückende Visionen auch entstiegen sein mögen, es ist offenbar einer, in den viele von uns gerne einen Blick werfen würden. Wir versuchen es, auf die eine oder andere Weise, schreibend, malend, sogar musizierend. Die Psychoanalyse hätte vermutlich ihre Freude daran.
Piranesis Abstieg in die römische Unterwelt ist historisch verbürgt, verbunden mit seinem zeitweiligen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Als er zurückkehrte, hatte er die fertigen Platten der Carceri dabei.
Wer die Knochengruft des Kapuzinerklosters an der Via Veneto besuchen will, kann das zu den üblichen Öffnungszeiten tun.
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