Das Haus des Windes
Woche wählten wir mehrere Fälle aus dem großen Corpus aus. In dieser Zeit, es war die letzte Schulwoche vor den Ferien, konnte meine Mutter das Schlafzimmer nicht verlassen. Mein Vater brachte ihr Essen. Ich setzte mich abends zu ihr ans Bett und las ihr aus den Lieblingsgedichten für die ganze Familie vor, bis sie einschlief. Es war ein altes, rotbraunes Buch, auf dessen rissigem Einband glückliche Weiße in der Kirche Gedichte rezitierten, sie abends ihren Kindern vorlasen oder sie der Liebsten ins Ohr flüsterten. Etwas Anspruchsvolles wollte sie nicht hören. Immer musste ich diese endlosen lyrischen Geschichten mit den umständlichen Wörtern und klappernden Reimen lesen. Ben Bolt , The Highwayman , The Leak in the Dike und wie sie alle hießen. Wenn sie ruhig und gleichmäßig zu atmen begann, stahl ich mich erleichtert davon. Sie schlief und schlief, als ob sie für einen Schlafmarathon trainiere. Sie aß wenig. Weinte viel – ein quälendes, monotones Schluchzen, das sie mit ihren Kissen zu dämpfen versuchte und das trotzdem durch alle Türen drang. Ich schlich die Treppe hinunter und ins Arbeitszimmer, wo ich mit meinem Vater weiter in den Akten las.
Wir lasen mit höchster Konzentration. Mein Vater war überzeugt, dass irgendwo dort in seinen Schriftsätzen, Notizen, Zusammenfassungen und Urteilen die Identität des Mannes verborgen lag, dessen Tat meiner Mutter beinahe die Seele aus dem Leib gerissen hatte.
KAPITEL DREI
DAS GESETZ
16. August 1987
Durlin Peace, Kläger
vs.
The Bingo Palace, Lyman Lamartine, Beklagte
Durlin Peace arbeitet im ›Bingo Palace and Casino‹ als Hausmeister und ist Lyman Lamartine direkt unterstellt. Am 5. Juli 1987 wurde ihm gekündigt, zwei Tage nach einem Streit mit seinem Vorgesetzten. Eine Zeugin sagte aus, dass dieser Streit von mehreren Angestellten mitgehört wurde und dass es dabei um eine Frau ging, mit der beide Männer ein Verhältnis hatten.
Am 4. Juli wurde im Innenhof des Bingo Palace eine Betriebsfeier abgehalten. Während dieser Feier verließ Durlin Peace, der am selben Tag Gerätschaften repariert hatte, zu Fuß das Firmengelände. Lyman Lamartine hielt ihn zurück und forderte ihn auf, seine Taschen zu leeren. In einer der Taschen befanden sich sechs Unterlegscheiben im Wert von ca. 15 Cent pro Stück. Lyman Lamartine beschuldigte Durlin Peace des versuchten Diebstahls von Firmeneigentum und sprach ihm die Kündigung aus.
Durlin Peace sagte aus, die Unterlegscheiben seien sein Privatbesitz gewesen. Da die Unterlegscheiben bei eingehender Untersuchung durch Richter Coutts keine wiedererkennbaren Merkmale aufwiesen, ließ sich nicht beweisen, dass sie dem Bingo Palace gehörten. Somit lag kein hinreichender Grund für eine Kündigung vor, und es wurde angeordnet, dass Durlin Peace seinen Arbeitsplatz im Bingo Palace wieder einnehmen durfte.
Unterlegscheiben?, fragte ich.
Was ist damit?, fragte mein Vater.
Ich sah wieder in die Akte.
Obwohl es keiner der Fälle war, die wir als bedeutsam einstuften, erinnere ich mich noch genau daran. Das war es. Das waren die gewichtigen Angelegenheiten, mit denen mein Vater seine Lebenszeit zubrachte. Natürlich war ich schon im Gericht dabei gewesen, wenn er genau solche Fälle verhandelte. Aber ich hatte gedacht, dass man mir aufgrund meines Alters die schwereren Fälle, die verstörenden, grausamen oder komplizierten Angelegenheiten vorenthielt. Ich hatte geglaubt, dass mein Vater sich mit der Lösung juristischer Grundsatzfragen beschäftigte, mit Staatsverträgen und Territorialforderungen, dass er Mördern in die Augen sah, dass er kritisch die Brauen runzelte, wenn Zeugen ins Stottern gerieten, und clevere Anwälte mit schneidender Ironie zum Schweigen brachte. Ich sagte nichts, aber im Weiterlesen spülte ein stetig anschwellender Strom der Bestürzung über mich hinweg. Wofür hatte Felix S. Cohen sein Handbuch geschrieben? Wo blieb da die Größe? Die Dramatik? Der Respekt? Die anderen Fälle, in denen mein Vater geurteilt hatte, waren alle fast genauso klein, so lächerlich und unbedeutend. Herzzerreißend waren sie manchmal auch, oder traurig und idiotisch zugleich, wie der mit Marilyn Shigaag, die an der Tankstelle fünf Hotdogs gestohlen und sie gleich vor Ort auf der Toilette hinuntergeschlungen hatte, aber kein einziger zeugte von der Erhabenheit, die ich mir vorgestellt hatte. Mein Vater bestrafte Hotdogdiebe und begutachtete Unterlegscheiben, nicht einmal Bremsscheiben, sondern
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