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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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sich Linden von ihr gelöst, aber vielleicht hat er sich auch von ihr vergiften lassen.
    Mein Vater ging in die Küche, um seinen Becher aufzufüllen. Ich starrte auf die ausgebreiteten Papiere. Vielleicht war das der Moment, in dem mir auffiel, dass von den veröffentlichten Urteilsbegründungen meines Vaters jede einzelne mit Füller unterzeichnet war, mit edler, indigoblauer Tinte. Er hatte eine gestochene, altertümliche Handschrift, viktorianisch fast, im feingliedrigen Stil einer anderen, fernen Zeit. Inzwischen weiß ich, dass zwei Dinge allen Richtern gemeinsam sind. Sie haben alle einen Hund, und sie haben alle irgendeinen Spleen, der sie unverwechselbar macht. Daher wohl dieser Füller, obwohl er zu Hause immer mit Kuli schrieb. Ich öffnete die letzte Akte, die noch auf dem Schreibtisch lag, und begann zu lesen:
    1. September 1974
    Francis Whiteboy (Kläger)
    vs.
    Asiginak, die Stammespolizei und Vince Madwesin (Beklagte)
    William Sterne in Vertretung des Klägers und Johanna Coeur de Bois in Vertretung der Beklagten.
    Am 13. August 1973 wurde am alten Rundhaus nördlich des Reservatssees eine Shaking-Tent-Zeremonie abgehalten. Das Shaking Tent, eins der heiligsten Rituale der Ojibwe, soll hier nicht näher beschrieben werden; es dient dem Zweck, die Teilnehmenden zu heilen und ihre spirituellen Fragen zu beantworten.
    An dem besagten Abend waren über hundert Personen anwesend, von denen einige am Rand der Menge Alkohol tranken. Einer dieser Trinker war Horace Whiteboy, Bruder von Francis, dem Kläger in dem vorliegenden Fall. Asiginak, der die Zeremonie leitete, hatte Vince Madwesin von der Stammespolizei gebeten, während der Zeremonie für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Vince Madwesin forderte Horace Whiteboy und die anderen Trinker auf, das Gelände zu verlassen.
    Es ist kulturell inakzeptabel, ja anstößig, während des Shaking Tent Alkohol zu sich zu nehmen, und für Madwesin war es daher folgerichtig, die Trinker zum Gehen aufzufordern. Mehrere von ihnen sahen auch ein, dass sie gegen die heiligen Verhaltensregeln verstießen, und verließen das Gelände. Horace Whiteboy wurde dabei beobachtet, wie er mit dieser Gruppe zusammen taumelnd die Straße hinunter verschwand. Übereinstimmenden Zeugenaussagen zufolge teilte der Geist in dem von Asiginak benannten Zelt allen Umstehenden mit, dass sich Horace Whiteboy in Gefahr befand.
    Am Nachmittag des Folgetages wurde Horace Whiteboy tot aufgefunden. Nachdem er sich von der Gruppe von Trinkern auf der Straße abgesondert hatte, vermutlich, um zu dem Rundhaus zurückzukehren,musste er am Fuß des Hügels beschlossen haben, sich auszuruhen. Seine Leiche wurde unter einem Gebüsch gefunden, wo er, auf dem Rücken liegend, an seinem eigenen Erbrochenen erstickt war.
    Francis Whiteboy, der Bruder von Horace, erhebt den Vorwurf der Fahrlässigkeit gegen Asiginak (der im Zelt von den Geistern darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass sich sein Bruder in Gefahr befand) und gegen Vince Madwesin (der allerdings in seiner Eigenschaft als Sicherheitskraft zu dem Zeitpunkt außer Dienst war und keine Bezahlung erhielt).
    Das Gericht befand, dass Asiginak ausschließlich dafür verantwortlich gewesen sei, den Geistern durch seine Anwesenheit zu erlauben, ihr Wissen weiterzugeben. Dieser Pflicht sei er nachgekommen.
    Vince Madwesin ist seiner Aufgabe, während der Zeremonie für Ordnung zu sorgen, mit geeigneten Mitteln nachgekommen. Da er außer Dienst war und für seine Tätigkeit nicht bezahlt wurde, kann gegen die Stammespolizei nicht gerichtlich vorgegangen werden. Madwesins Aufgabe bestand darin, Betrunkene des Geländes zu verweisen. Für das Handeln der Betrunkenen selbst kann er nicht verantwortlich gemacht werden.
    Wer sich bis zum Erbrechen betrinkt, setzt sich damit dem Risiko aus, tödlich zu verunglücken. Horace Whiteboys Tod war, so tragisch er auch gewesen sein mag, die Folge seiner eigenen Handlungen. Mitleid mit Alkoholikern sollte zwar die Regel sein, aber es ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, sie wie Kinder zu umsorgen. Horace Whiteboys Verhalten hat zu seinem Tod geführt, und sein Schicksal war die Folge seiner eigenen Entscheidungen.
    Das Gericht entschied zugunsten der Beklagten.
    Warum denn den?, fragte ich, als mein Vater wiederkam.
    Es war schon spät. Mein Vater setzte sich, trank einen Schluck Kaffee und nahm seine Lesebrille ab. Er rieb sich die Augen und war wahrscheinlich zu erschöpft, um noch über seine Worte nachzudenken.
    Wegen

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