Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
Vom Netzwerk:
vier Nächte lang, mit schwarz geschminktem Gesicht, vollkommen wehrlos, und wartete darauf, dass die Geister ihre Freunde wurden und sie in ihre Obhut nahmen. Als am fünften Tag ihre Eltern nicht wiederkamen, wusste sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie durchbrach die Spuckeschicht, die ihren durstigen Mund versiegelte, trank von dem Seewasser und aß die Erdbeeren, deren Anblick sie gequält hatte. Sie machte Feuer, denn obwohl sie ihn während des Fastens nicht benutzen durfte, hatte sie einen Feuerschläger dabei. Von da an lebte sie auf der Insel. Sie baute eine Reuse und ernährte sich von Fischen. Die Insel war weit abgelegen, aber es wunderte sie doch, wie die Zeit verging– ein Mond und noch ein Mond –, ohne dass jemand sie holen kam. Inzwischen wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Und sie wusste, dass die Fische bald für den Sommer in einen anderen Teil des Sees abwandern würden und sie verhungern müsste. Also beschloss sie, zu dem zwanzig Meilen entfernten Festland zu schwimmen. Eines sonnigen Morgens machte sie sich mit dem Wind im Rücken auf den Weg. Lange trugen die Wellen sie voran, und sie schwamm in kräftigen Zügen, obwohl die magere Kost auf der Insel sie geschwächt hatte. Aber dann drehte der Wind und blies ihr genau entgegen. Wolken senkten sich herab, und ein harter, kalter Regen peitschte ihr ins Gesicht. Ihre Arme und Beine wurden schwer wie nasse Holzscheite. Sie dachte, sie müsste sterben, und rief in ihrer Not um Hilfe. Im selben Moment spürte sie, wie sich unter ihr etwas aus dem See erhob. Es war eine riesige uralte Mishiikenh, eine jener Schnappschildkröten, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen seit 150 Millionen Jahren unverändert geblieben sind – eine beängstigende, aber perfekte Lebensform. Dieses Tier schwamm unter das Mädchen, bahnte ihr den Weg durch die Wellen, hob sie an die Oberfläche, wenn ihr die Kraft ausging, und ließ das erschöpfte Kind sich an ihrem Panzer festhalten, bis sie das Ufer erreichten. Das Mädchen watete an Land, drehte sich noch einmal um und dankte ihr. Die Schildkröte betrachtete sie reglos, die Augen zwei unheimliche gelbe Sterne, und ließ sich ins Wasser sinken. Dann traf das Mädchen auf seine Geschwister. Es war wirklich etwas Schreckliches passiert. Die Verheerungen der Spanischen Grippe waren über sie hereingebrochen – wie alle Seuchen hatte sie die Reservate am härtesten getroffen. Ihre Eltern waren tot, und sie hatten nicht gewusst, wo ihre Schwester ausgesetzt worden war; außerdem fürchteten die Leute, sich mit der tödlichen Krankheit anzustecken, und waren schnell vor ihnen geflohen, so dass auch die Geschwister allein zurückgeblieben waren.
    Es gibt zahllose Geschichten über Kinder, die allein lebenmussten, fuhr mein Vater fort, zum Beispiel die antiken Sagen, in denen Säuglinge von Wölfen ernährt wurden. Aber es gibt auch schon unter den frühesten Kulturzeugnissen der westlichen Welt Geschichten von Menschen, die von Tieren gerettet wurden. Eine meiner liebsten stammt von Herodot und handelt von Arion von Mithymna, dem berühmten Harfenspieler und Erfinder des Dithyrambus. Dieser Arion wollte nach einem Sängerwettstreit nach Korinth zurück und ging an Bord eines Schiffes, das von Korinthern befehligt wurde, von seinen eigenen Landsleuten also, die er für besonders vertrauenswürdig hielt – so viel zu den eigenen Landsleuten, sagte mein Vater, die Korinther beschlossen nämlich, kaum dass der Hafen außer Sicht war, Arion über Bord zu werfen und seine Reichtümer für sich zu behalten. Als er erfuhr, was ihm bevorstand, bat Arion die Männer, erst seine Sängerkluft anlegen und vor seinem Tod noch einmal singen und spielen zu dürfen. Die Seeleute waren gern bereit, sich den besten Sänger der Welt anzuhören, und hielten sich zurück, während Arion sich anzog, seine Harfe holte und an Deck ein Lied spielte. Als er fertig war, sprang er wie versprochen über Bord. Die Korinther segelten davon. Arion wurde von einem Delphin gerettet, der ihn auf seinem Rücken nach Taenarum trug. Es wurde eine kleine Bronzestatue von Arion auf dem Rücken des Delphins hergestellt, vor der man damals Opfer darbrachte. Der Delphin war von Arions Musik gerührt – so verstehe ich es jedenfalls, sagte mein Vater. Ich stelle mir vor, wie der Delphin neben dem Schiff herschwamm – er hörte die Musik und war zutiefst erschüttert, wie es wohl jeder gewesen wäre, wenn man sich vorstellt,

Weitere Kostenlose Bücher