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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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das schwarze Quadrat der Freiheit zu, in dem schon die ersten Sterne leuchteten.
    Vorauseilend möchte ich sagen, dass diese Erfahrung mir später geholfen hat, Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat zu verstehen. Nur ein paar winzige bläulich-weiße Punkte hätte ich an des Meisters Stelle dem Bild noch hinzugefügt. Doch Malewitsch, wiewohl er sich Suprematist nannte, hielt sich an die Wahrheit des Lebens: Am Himmel über Russland ist nun einmal selten Licht. Und der Seele bleibt nichts weiter übrig, als unsichtbare Sterne aus sich selbst hervorzuzaubern – so die Botschaft des Bildes. Der Gedanke kam mir allerdings erst viele Jahrhunderte später. In dieser Sekunde ging ich einfach zu Boden – aus einem unerträglichen, mit nichts zu vergleichenden Gefühl der Scham heraus. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich nicht einmal schreien konnte.
    Der Gelbe Herr hatte mir die Fesseln von den Händen gelöst. Das Fenster war ganz nahe. Doch den Hut, der meinen Schweif zu Boden drückte, den hatte ich schlicht vergessen.
     
    Kein physischer Schmerz, nicht einmal ein seelischer, ließe sich vergleichen mit dem, was ich hier erlitt. Alles, was ein Einsiedler in jahrelanger Buße durchmacht, passte in eine Sekunde dieses Gefühls, es war von nie dagewesener Intensität, fuhr wie ein Blitzschlag hinein in die dunkelsten Winkel meiner Seele. Ich sank zu Boden wie eine Handvoll Staub, Tränenströme stürzten mir aus den Augen. Vor meiner Nase lag eines der zerknitterten Blätter mit dem Herz-Sutra, die Zeichen blickten mich gleichmütig an: Ich, meine verunglückte Flucht, die unaussprechlichen Qualen, die ich in dieser Sekunde über mich ergehen ließ – alles nur leerer Schein, wollten sie besagen.
    Der Gelbe Herr lachte nicht mehr, blickte auf mich sogar mit einem gewissen Mitgefühl, doch ich spürte, er konnte sich das Lachen gerade so verbeißen. Was mein Selbstmitleid nur noch steigerte, ich heulte Rotz und Wasser, von dem die Hieroglyphen vor meiner Nase zu formlosen schwarzen Klecksen zerflossen.
    »Tut es so weh?«, fragte der Gelbe Herr.
    »Nein«, stieß ich unter Tränen hervor, »ich … ich …«
    »Was ist mit dir?«
    »Ich … bin es nicht gewohnt, mit Menschen offen zu reden.«
    »Bei deiner Erwerbstätigkeit kein Wunder!«, sagte er lächelnd. »Aber sag schon, warum weinst du?«
    »Ich schäme mich«, flüsterte ich.
    Mir war so elend, dass an irgendwelche Tricks nicht mehr zu denken war. Die Anteilnahme, die der Gelbe Herr mir entgegenbrachte, kam mir unangemessen vor, immerhin wusste ich genau, was mir für all meine Taten gebührte. Wäre er darangegangen, mir das Fell bei lebendigem Leib über die Ohren zu ziehen, ich hätte wohl nicht viel dagegen unternommen.
    »Wofür schämst du dich?«
    »Für alles, was ich begangen habe … Ich habe Angst.«
    »Wovor?«
    »Dass die Rachegeister mich in die Hölle schicken«, sprach ich so leise, dass man es kaum hören konnte.
    Dies war nicht geflunkert. Unter den Visionen, die gerade vor meinem inneren Auge vorübergezogen waren, fand sich diese: In einem Eisloch drehte sich ein schwarzes Rad und wickelte meinen Schweif auf, zerrte ihn aus mir hervor, der Schweif riss nicht ab, er wurde lang und länger, zog sich wie der Spinnfaden aus dem Spinnenbauch, und jede Sekunde in diesem Alptraum bereitete mir unsägliche Pein. Am schrecklichsten aber war die Gewissheit, dass es nie, nie enden würde … Grässlicheres kann sich kein Werfuchs ausdenken.
    »Glauben Werfüchse denn an Vergeltung?«, fragte der Gelbe Herr.
    »Ob wir dran glauben oder nicht, tut nichts dazu. Die Vergeltung ereilt uns jedes Mal, wenn wir kräftig am Schweif gezogen werden.«
    »So ist das also«, sagte er nachdenklich. »Ich hätte sie damals nur am Schweif ziehen müssen …«
    »Wen?«
    »Ach, vor Jahren kam manchmal ein äußerst pfiffiger Werfuchs aus der Hauptstadt hierher, um Vergebung für seine Sünden zu erbeten. Im Unterschied zu dir fürchtete das Mädchen die Hölle kein bisschen – im Gegenteil, sie suchte mir zu beweisen, dass sowieso alle dorthin kommen. Ihr Gedanke war der, dass, selbst wenn Menschen mitunter Güte zeigen, die irdische Barmherzigkeit von der himmlischen weit übertroffen wird! Es sei völlig klar, dass der Oberste Ahn ausnahmslos allen vergebe und sie geradenwegs ins Paradies schicke. Denn die Menschen machen das Paradies sowieso zur Hölle – so wie vorher die Erde …«
    Meine Neugier ist normalerweise unbezähmbar, doch in diesem Augenblick ging es

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