Beobachter
PROLOG
Er fragte sich, ob seine Frau wohl schon etwas gemerkt hatte … Manchmal sah sie ihn so seltsam an. Misstrauisch. Forschend. Sie sagte nichts, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht sehr genau beobachtete. Und sich ihre Gedanken machte.
Sie hatten im April geheiratet, jetzt war September, und sie befanden sich noch in der Phase, in der man vorsichtig miteinander umging und versuchte, die eigenen Macken nicht allzu deutlich zu offenbaren. Dennoch war ihm jetzt schon klar, dass sich seine Frau irgendwann als Nörglerin entpuppen würde. Sie war nicht der Typ, der lautstark stritt, mit Tellern um sich warf oder gar damit drohte, ihn aus dem Haus zu schmeißen. Sie war der Typ, der leise und unaufhörlich und nervenzersetzend lamentierte.
Aber noch beherrschte sie sich. Versuchte, ihm alles recht zu machen. Sie kochte das Essen, das er mochte, stellte das Bier rechtzeitig in den Kühlschrank, bügelte seine Hosen und Hemden und sah sich mit ihm zusammen die Sportsendungen im Fernsehen an, obwohl sie eigentlich auf Liebesfilme stand.
Und dabei belauerte sie ihn. Das glaubte er jedenfalls zu spüren.
Sie hatte ihn geheiratet, weil sie nicht ohne Mann sein konnte, weil sie sich umsorgt, beschützt und aufgehoben fühlen musste. Er hatte sie geheiratet, weil er kurz davor gestanden hatte, ins Abseits zu kippen. Kein fester Job, wenig Geld. Irgendwann würde er den Halt verlieren, das hatte er gespürt. Er hatte bereits begonnen, zu viel zu trinken. Noch schaffte er es, die eine oder andere Gelegenheitsarbeit zu ergattern und von dem Lohn die Miete der trostlosen Wohnung zu bezahlen, in der er lebte. Aber sein Lebensmut sank. Er sah keine Perspektive mehr.
Und dann war Lucy gekommen und mit ihr die kleine Fahrradwerkstatt, die sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, und er hatte zugegriffen. Er hatte immer einen Blick für Chancen gehabt, und er war stolz, kein Mensch zu sein, der lange zögerte.
Jetzt war er verheiratet. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Er hatte Arbeit.
Sein Leben funktionierte wieder.
Und nun das. Diese Gefühle, diese Besessenheit, die Unfähigkeit, an etwas anderes zu denken. An etwas anderes als an sie.
Obwohl er das im Grunde vorher gewusst hatte.
Und sie war nicht Lucy.
Sie war blond. Nicht schlecht gefärbt wie Lucy, die schon hier und da graue Haare bekam, sondern echt blond. Die Haare reichten ihr bis zur Taille hinunter und schimmerten in der Sonne wie ein Tuch aus goldfarbener Seide. Sie hatte blaugrüne Augen: Je nachdem, wie hell es draußen war, aber auch abhängig von den Farben ihrer Kleidung oder des Hintergrundes, vor dem sie sich bewegte, schienen sie manchmal blau zu sein wie Vergissmeinnicht oder grün wie ein tiefer See. Dieses intensive Farbenspiel ihrer Augen faszinierte ihn. Er hatte so etwas vorher noch bei niemandem wahrgenommen.
Er mochte auch ihre Hände. Sie waren sehr feingliedrig, sehr schmal. Lange, schlanke Finger.
Er mochte ihre Beine. Zart. Fast zerbrechlich. Alles an ihr war so. Wie aus einem ganz feinen, hellen Holz geschnitzt, von jemandem, der sich viel Zeit genommen, der sich große Mühe gegeben hatte. Nichts an ihr war plump, dick oder grob. Sie war die vollendete Anmut.
Wenn er an sie dachte, brach ihm der Schweiß aus. Wenn er sie sah, konnte er den Blick nicht mehr abwenden, und das war es wahrscheinlich auch, was Lucy aufgefallen war. Er versuchte, am Hoftor zu stehen, wenn sie die Straße hinunterkam. Meistens probierte er irgendein gerade repariertes Fahrrad auf dem Gehweg aus, um einen Vorwand zu haben, sich dort herumzutreiben. Er liebte ihre Bewegungen. Diese federnden Schritte. Sie trippelte nicht, sie schritt weit aus. Es war so viel Kraft in allem, was sie tat. Ob sie lief oder redete oder lachte: ja, unbändige Kraft. Energie.
Schönheit. Ein solches Übermaß an Schönheit und Vollkommenheit, dass er es manchmal fast nicht zu glauben wagte.
War es Liebe, was er empfand? Es musste Liebe sein, nicht bloß Gier, Erregung, all das, was dazugehörte, was aber nur deshalb entstehen konnte, weil er sie liebte. Die Liebe war der Anfang, der Boden, auf dem die Sehnsucht gedieh. Diese Sehnsucht, die er für Lucy nicht aufbrachte. Lucy war eine Notlösung gewesen, und zwar eine, die er nicht aufgeben konnte, weil jenseits von Lucy nach wie vor der soziale Absturz drohte. Lucy stellte eine bittere Notwendigkeit dar. In bittere Notwendigkeiten musste man sich fügen, manchmal verlangte das Leben es so. Er hatte längst gelernt,
Weitere Kostenlose Bücher