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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Ein Geheimnis. Aber nitschewo, sollte er ruhig einmal über die wichtigen Dinge des Lebens nachdenken, das hat noch keinem geschadet.
    Am nächsten Morgen stand die Sache mit dem Sikh in den Nachrichten. Nicht seinetwegen war ich ins Internet gegangen, doch irgendein dreister Wurm hatte mir das Informationsportal nachrichten.ru als Startseite definiert, und ich war noch nicht dazu gekommen, das zu ändern. Ich zwang mich, die Meldung bis zu Ende zu lesen:
     
    GESCHÄFTSMANN AUS INDIEN BEGING SELBSTMORD VOR DEN AUGEN DER SICHERHEIT
    Das Moskauer Hotel National entwickelt sich im öffentlichen Bewusstsein immer mehr zu einer Gefahrenzone. Noch ist der Terroranschlag in seinem Eingangsbereich den Moskauern in frischer Erinnerung, da ereignet sich ein neuer spektakulärer Vorfall: Ein Geschäftsmann (43) aus Indien, Bundesstaat Punjab, nahm sich durch einen Sprung aus dem Fenster im vierten Stock das Leben. So wird zumindest von zwei im Hotel angestellten Wachleuten behauptet, die zum Zeitpunkt der Tragödie bei ihm waren. Nach ihren Aussagen hatte der Gast aus Indien sie durch Betätigen der Notrufsignalleine ins Zimmer gerufen; bei ihrem Erscheinen habe der Inder Anlauf genommen und sei ohne ersichtlichen Grund aus dem Fenster gesprungen. Nach Aufschlagen auf dem Pflaster war der Geschäftsmann sofort tot. Ersten Ermittlungen zufolge hatte er kurz zuvor Besuch von einer jungen Dame aus der Halbwelt. Die Untersuchungen dauern an.
     
    Wieso vierter Stock, fragte ich mich zunächst, er hatte doch Zimmer dreihundertneunzehn? Aber dann fiel mir ein, dass die Nummerierung nach westeuropäischer Mode eingerichtet war, Parterre und erster Stock wurden nicht gezählt, die Dreihundertneunzehn lag tatsächlich im vierten.
    Von da wanderten meine Gedanken zu dem rätselhaften Wort Halbwelt. Warum eigentlich nicht Viertelwelt? Mit dieser Art Wortbildung ließe sich der moralische Niedergang einer Frau mathematisch exakt bestimmen. Da wäre bei mir in zweitausend Jahren bestimmt ein stattlicher Nenner aufgelaufen …
    Endlich kam in mir doch so etwas wie Scham auf: Hatte ich denn gar kein Mitleid? Da war ein mir in gewisser Weise nahestehender Mensch gestorben – ich aber zählte Etagen und stellte Bruchrechnungen an. Auch wenn die Nähe nur zeitweilig-vorbehaltlich-halluzinatorisch gewesen war: Es gehörte sich, Mitleid zu empfinden, wenigstens in einer vagen, der Art unserer Begegnung angemessenen Form. Doch ich empfand keines – das Herz verweigerte es rundheraus. Tote Hose, wie meine jungen Mitstreiterinnen aus der Provinz dazu sagen. Stattdessen dachte ich noch einmal über die möglichen Ursachen für die Ausschreitung von gestern nach:
     
    1. konnte es an der Astralkulisse im Hotel National gelegen haben, wo in einer Ehrengäste des Hauses betitelten Fotogalerie Isadora Duncan neben Dzierzynski hängt;
    2. konnte der Vorfall die karmische Folge irgendeines dieser blutigen Geschäftsrituale gewesen sein, die sie in Asien so sehr lieben, oder
    3. eine indirekte Folge der Abkehr Indiens von der Lehre Buddhas im Mittelalter;
    4. hatte der Sikh insgeheim doch die Göttin Kali angebetet – sonst hätte er nicht noch im Sprung aus dem Fenster »Kali ma!« gerufen.
     
    Zur Erläuterung sei angemerkt, dass bis zu fünf innere Stimmen in mir wohnen, von denen wiederum jede ihren eigenen inneren Dialog führt; außerdem können sie beim geringsten Anlass miteinander in Streit geraten. Ich mische mich da nicht ein, höre nur aufmerksam zu, um womöglich einen Hinweis auf des Rätsels Lösung zu erhaschen. Namen haben die einzelnen Stimmen keine. Diesbezüglich bin ich von schlichtem Gemüt – manche Werfüchse haben an die vierzig solcher Stimmen, jede heißt irgendwie, und die Namen sind klangvoll und komplex.
    Die alten Werfüchse behaupten, dass diese Stimmen den Seelen gehört haben, die von uns in Zeiten der Ursuppe geschluckt worden sind: Der Legende nach haben sie sich damals in uns eingenistet, sind eine Art Symbiose mit unserem eigenen Wesen eingegangen. Aber das sind wohl eher Ammenmärchen, denn alle diese Stimmen sind meine, auch wenn jede verschieden ist. Und wollte man den Überlegungen der alten Werfüchse folgen, so ließe sich behaupten, auch ich wäre eine von irgendwem in alter Zeit verschluckte Seele. Eine sinnlose Umstellung von Summanden, bei der sich an der Summe A Huli nichts ändert.
    Aufgrund dieser Stimmen jedenfalls denken Werfüchse anders als Menschen. Der Unterschied ist, dass nicht nur ein

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