Das heilige Buch der Werwölfe
Denkprozess in unserem Bewusstsein abläuft, sondern mehrere parallel. Der Verstand geht verschiedene Wege auf einmal und kann sehen, auf welchem von ihnen zuerst die Wahrheit aufblitzt. Um diese Besonderheit meines Innenlebens zu verdeutlichen, bezeichne ich die verschiedenen Ebenen meines inneren Gedankenaustauschs mit den Ziffern 1., 2., 3. etc.
Diese Denkprozesse kommen einander nie ins Gehege, sie verlaufen absolut autonom, doch mein Bewusstsein ist in jeden einbezogen. Man kennt das von Zirkusartisten, die mit einer größeren Anzahl von Gegenständen jonglieren. Was die mit ihren Gliedmaßen zuwege bringen, das tue ich mit dem Geist, so lässt sich das sagen. Aufgrund dieser Eigenart neige ich dazu, Listen aufzustellen, alles in Punkte und Unterpunkte zu zerlegen – auch wo nach menschlichem Ermessen keine Notwendigkeit dafür besteht. Sollten derlei Register auf diesen Seiten hin und wieder auftauchen, bitte ich also um Nachsicht. Genau so spielt sich das alles in meinem Kopf ab.
Ich holte mir den toten Sikh so plastisch wie möglich vor Augen und sprach ein dreifaches Mantra für sein Seelenheil, dann wechselte ich nach reuters.com , um zu erfahren, was es Neues auf der Welt gab. Auf der Welt war alles genau so wie in den letzten zehntausend Jahren. Die Schlagzeile America Ponders Mad Cow Strategy bereitete mir Spaß. Anschließend öffnete ich mein E-Mail-Postfach.
Außer einem Angebot zur Penisverlängerung und einer verzipten Datei, die ich schon aufgrund des leidigen Betreffs (Britney Blowing a Horse) lieber nicht öffnete, gab es eine freudige Überraschung: einen Brief von meiner Schwester I Huli, von der ich schon länger nichts gehört hatte.
Schwesterlein I kannte ich seit der Zeit der Streitenden Reiche. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Vor vielen Jahrhunderten war sie ganz China als kaiserliche Konkubine mit Namen Fliegende Schwalbe ein Begriff. Infolge ausgiebiger Beobachtung ihrer Flüge starb der Kaiser zwanzig Jahre vor der Zeit. Hierfür wurde I Huli von den Schutzgeistern bestraft, sie führte fortan ein Schattendasein, spezialisiert auf reiche Aristokraten, die sie in der Stille ihrer provinziellen Landgüter, unbemerkt von aller Welt, ausnahm. Die letzten paar Hundert Jahre hatte sie in England gelebt.
Der Brief war ganz kurz:
Grüß Dich, Rotschwänzchen,
wie ist die Lage? Hoffe, bei Dir ist alles o.k. Entschuldige, dass ich Dich aus nichtigem Anlass behellige, aber ich bräuchte dringend eine Auskunft von Dir Meinen Recherchen zufolge existiert in Moskau eine Kathedrale Christi Schutzmann, die sie erst bis auf den letzten Stein geschleift haben, um sie hinterher genauso wiederaufzubauen. Stimmt das? Was weißt Du darüber? Gib schnell Antwort!
Ich liebe Dich und denk an Dich
Deine I
Seltsam! dachte ich, wie kommt sie auf einmal darauf? Doch eine schnelle Antwort war erbeten. Ich klickte auf Reply.
Grüß Dich, Rotschopf!
Bei uns im Norden ist alles beim Alten. Ich schreibe demnächst ausführlicher, hier erst mal die Antwort auf Deine Frage. Ja, in Moskau gibt es eine Christi-Erlöser-Kathedrale, wie sie korrekt heißt, die nach der Revolution gesprengt wurde und Ende voriges Jahrhundert wiedererrichtet. Da war tatsächlich kein Stein auf dem anderen geblieben – an ihrer Stelle befand sich lange Zeit ein Schwimmbad. Jetzt ist das Bassin wieder zugeschüttet und die Kathedrale neugebaut. Vom kulturellen Standpunkt aus ist dieser Vorgang zwiespältig zu bewerten: Auf einer Demonstration sah ich die Losung: »Wir fordern die Wiederherstellung des von der Kleptokratie barbarisch zerstörten Schwimmbads Moskwa!« Was mich betrifft, so habe ich weder das eine noch das andere Etablissement je besucht und daher keine eigene Meinung dazu.
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine A
Ich schickte den Brief ab und begab mich auf die Seite nutten.ru. Dort war allerhand los. Selbst die Werbe-PopUps hatten überwiegend einen thematischen Bezug.
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Geländekondome sozusagen. Der Markt suchte immer neue Wege und Nischen. Mir waren schon Kondome der Marke Occam's Razor untergekommen, auf denen das Bildnis des mittelalterlichen Scholastikers prangte, dazu sein Ausspruch als Slogan: Wesenheiten soll man nicht über Gebühr vermehren. William Ockham habe ich persönlich gekannt. Es war, glaube ich, im vierzehnten Jahrhundert, dass ich ihm bei einer Begegnung sagte, von seinem Rasiermesserprinzip sei es nur ein
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