Das Herz der Hoelle
auf ihren Diners ihre Gäste begrüßte. Andere Bilder kamen hinzu. Mein Vater, der mich zärtlich mein »kleines Christkind« nannte und mich dann ans Tischende setzte; meine Mutter, die immer zurückwich, wenn ich zu ihr wollte, aus Angst, ich könnte ihre Kleider zerknittern. Und mein stummer Stolz angesichts ihrer Distanziertheit und ihres armseligen Materialismus.
»Es ist Wochen her, seit wir zum letzten Mal zusammen zu Mittag gegessen haben.«
Sie brachte ihre Vorwürfe immer in dem gleichen sanften Tonfall vor. Sie trug seelische Kränkungen zur Schau, an die sie selbst nicht glaubte. Meine Mutter, die nur für Markenklamotten und für Weine aus kontrolliertem Anbau lebte, bewegte sich in einer Welt unechter Gefühle.
»Tut mir leid«, log ich, »dass die Zeit so schnell vergeht!«
»Du liebst mich nicht.«
Sie hatte die Gabe, im Verlauf einer harmlosen Unterhaltung tragische Sentenzen zum Besten zu geben. Dieses Mal hatte sie es im Tonfall eines schmollenden kleinen Mädchens gesagt. Ich konzentrierte mich auf den Duft des feuchten Efeus, den Geruch der Wände, die vor Kurzem neu gestrichen worden waren.
»Im Grunde liebst du niemanden.«
»Ganz im Gegenteil: Ich liebe alle Menschen.«
»Das sage ich doch. Dein Gefühl ist allgemein und abstrakt. Es ist eine Art … Theorie. Du hast mir niemals eine Braut vorgestellt.«
Ich betrachtete das Stück Nachthimmel, das sich über dem Treppengeländer abzeichnete.
»Wir haben tausendmal darüber gesprochen. Mein Herz ist anderweitig gebunden. Ich versuche, meine Mitmenschen zu lieben. Alle Mitmenschen.«
»Auch die Verbrecher?«
»Vor allem die Verbrecher.«
Sie schlug ihren Mantel über ihre Beine. Ich betrachtete ihr vollkommenes Profil.
»Du bist wie ein Psychologe«, fügte sie hinzu. »Du interessierst dich für alle und daher für niemanden. Jemanden lieben heißt, sein Leben für ihn aufs Spiel setzen, mein Junge.«
Ich war mir nicht sicher, ob gerade sie das Recht hatte, mich zu belehren. Trotzdem zwang ich mich dazu, ihr zu antworten, denn sie wollte zweifellos auf etwas hinaus.
»Ich habe in Gott eine lebhaft sprudelnde Quelle gefunden. Einen Born der Liebe, der nie versiegt und der bei den anderen das gleiche Gefühl wecken soll.«
»Immer deine Predigten. Du lebst in einer anderen Zeit, Mathieu.«
»Der Tag, an dem du begreifst, dass das Wort Gottes zeitlos ist …«
»Behandle mich nicht so herablassend.«
Ihr Gesichtsausdruck ließ mich plötzlich stutzen: Meine Mutter war genauso sonnengebräunt und elegant wie immer, aber heute kam so etwas wie Müdigkeit und Überdruss zum Vorschein.
»Weißt du, wie alt ich bin?«, fragte sie plötzlich, »Ich meine, wie alt ich wirklich bin?«
Das war eines der bestgehüteten Geheimnisse von Paris. Sobald ich Zugriff auf das zentrale Personenregister hatte, hatte ich es als Erstes überprüft. Um ihr zu schmeicheln, sagte ich:
»Fünfundfünfzig, sechsundfünfzig …«
»Fünfundsechzig.«
Ich war fünfunddreißig. Mit dreißig Jahren hatte meine Mutter plötzlich den Wunsch gehabt, ein Kind zu bekommen, kurz nachdem sie in zweiter Ehe meinen Vater geheiratet hatte. Sie hatten sich über dieses »Projekt« verständigt, so wie man sich über den Kauf eines neues Segelboots oder eines Gemäldes von Soulages verständigt. Meine Geburt hatte sie zunächst bestimmt gefreut, aber dann waren sie meiner schnell überdrüssig geworden. Vor allem meine Mutter, die ihrer Launen immer schnell müde wurde. Egoismus und Müßiggang raubten ihr all ihre Energie. Echte Gleichgültigkeit ist eine Vollzeitbeschäftigung.
»Ich suche einen Priester.«
Meine Besorgnis nahm zu. Ich dachte plötzlich an eine tödliche Krankheit, eines jener erschütternden Ereignisse, die eine innere Umkehr auslösen.
»Du bist nicht …«
»Krank?« Sie lachte hochmütig. »Nein. Überhaupt nicht. Ich will beichten, das ist alles. Aufräumen. Wieder eine Art … Jungfräulichkeit finden.«
»Ein Facelifting, wie?«
»Mach dich nicht lustig.«
»Ich habe immer gedacht, du würdest der fernöstlichen Schule zuneigen«, spottete ich, »oder dem New Age.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und sah mich schief an. Die hellen Augen in ihrem dunklen Gesicht waren noch immer beeindruckend verführerisch.
»Du findest das
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