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Das Herz der Hoelle

Titel: Das Herz der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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KAPITEL 1
    »Zwischen Leben und Tod.«
       Eric Svendsen hatte eine Schwäche für Floskeln. Ich hasste ihn dafür, jedenfalls heute. Ein Gerichtsmediziner sollte sich auf einen klaren, präzisen Bericht beschränken – basta. Aber der Schwede konnte nicht anders: Er war ein hoffnungsloser Phrasendrescher …
       »Luc wird entweder jetzt aufwachen«, fuhr er fort, »oder gar nicht mehr. Sein Körper funktioniert, aber sein Bewusstsein ist an einem toten Punkt. Er schwebt zwischen zwei Welten.«
       Ich saß im Wartezimmer der Intensivstation. Svendsen stand im Gegenlicht. Ich fragte ihn:
       »Wo ist es eigentlich passiert?«
       »In seinem Landhaus in der Nähe von Chartres.«
       »Weshalb wurde er hierher verlegt?«
       »Das Krankenhaus in Chartres ist für so schwere Notfälle nicht ausgerüstet.«
       »Warum wurde er ausgerechnet hierher, ins Hôtel-Dieu, gebracht?«
       »Weil alle verletzten Polizisten hier behandelt werden.«
       Ich rutschte auf meinem Stuhl nach hinten. Ein Schwimmer bei den Olympischen Spielen, bereit zum Kopfsprung. Mir wurde übel von dem Geruch der Desinfektionsmittel, der durch die geschlossene Doppeltür drang und sich mit der Hitze vermischte. Alle möglichen Fragen schwirrten mir durch den Kopf:
       »Wer hat ihn gefunden?«
       »Der Gärtner. Er hat ihn im Fluss entdeckt, in der Nähe des Hauses, und ihn in letzter Minute aus dem Wasser gezogen. Um 8 Uhr morgens. Zufällig war ein Notarztwagen in der Nähe. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen.«
       Ich stellte mir den Schauplatz vor. Das Haus in Vernay, die Rasenfläche mit den angrenzenden Feldern, den hinter üppigem Grün verborgenen Fluss, das dichte Unterholz am anderen Ufer. Wie viele Wochenenden hatte ich dort verbracht …? Ich sprach das verbotene Wort aus:
       »Wer hat von Selbstmord gesprochen?«
       »Die Rettungssanitäter. Sie haben es in ihrem Bericht geschrieben.«
       »Wieso kann es kein Unfall gewesen sein?«
       »Der Körper war mit Gewichten beschwert.«
       Ich blickte auf. Svendsen breitete zum Zeichen seiner Ratlosigkeit die Arme aus. Im Gegenlicht wirkte er wie ein Scherenschnitt. Ein hagerer Körper und fülliges krauses Haar, rund wie eine Mistelbeere.
       »Luc trug an der Hüfte mit Draht befestigte Brocken von Betonsteinen. Eine Art Bleigürtel, wie ihn Taucher benutzen.«
       »Könnte es nicht Mord sein?«
       »Red keinen Stuss, Mat. Dann hätte man ihn sicher mit drei Kugeln im Bauch gefunden. Aber es gibt keinerlei Hinweise auf Gewaltanwendung. Er hat sich ertränkt, daran gibt es nichts zu deuteln.«
       Ich dachte an Virginia Woolf, die sich ihre Taschen mit Steinen vollgestopft hatte, bevor sie sich in Sussex, in England, in einem Fluss ertränkt hatte. Svendsen hatte recht. Der Schauplatz der Tat ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Jeder andere Polizist hätte sich mit seiner Dienstwaffe eine Kugel in den Kopf gejagt. Luc aber hatte Sinn für Rituale – und für heilige Stätten. Vernay, für dessen Erwerb, Restaurierung und Einrichtung er sich krummgelegt hatte. Ein perfektes Refugium.
       Der Gerichtsmediziner legte mir die Hand auf die Schulter.
       »Er ist nicht der erste Polizist, der Selbstmord begeht. Ihr bewegt euch am Rand des Abgrunds und …«
       Wieder Floskeln. Ich hörte nicht mehr hin und dachte an die Statistiken. Im Vorjahr hatten sich in Frankreich fast einhundert Polizisten erschossen. Seine berufliche Laufbahn mit Selbstmord zu beenden schien gang und gäbe.
       Im Flur war es noch dunkler geworden. Äthergeruch, drückende Hitze. Wann hatte ich zum letzten Mal mit Luc gesprochen? Seit wie vielen Monaten hatten wir nichts mehr voneinander gehört? Ich sah Svendsen an.
       »Und du, was machst du hier?«
       Er zuckte mit den Schultern.
       »Sie hatten mir eine Leiche gebracht. Einen Einbrecher, Schlaganfall während eines Einbruchs. Die Typen, die ihn brachten, kamen vom Hôtel-Dieu und haben mir von Luc erzählt. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin hergekommen. Meine Klienten können warten.«
       Seine Worte riefen mir die Stimme von Foucault, meinem Gruppenleiter, in Erinnerung, der mich vor einer Stunde angerufen hatte: »Luc hat Schluss gemacht!«
       Die Migräne in meinem Kopf wurde stärker.
       Ich musterte Svendsen genauer. Ohne weißen Kittel kam er mir unwirklich vor. Doch er war es, kein Zweifel: Seine kleine Hakennase und

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