Das Herz der Hoelle
Thema meiner Doktorarbeit, »Der Einfluss der frühchristlichen Autoren auf die Entwicklung des Christentums«, würde mir erlauben, mehrere Jahre mit meinen Lieblingsautoren zu verbringen: Tertullian, Minucius Felix, Cyprian …
Damals hielt ich die drei Mönchsgelübde – Gehorsam, Armut, Keuschheit. Ich lag also meinen Eltern nicht schwer auf der Tasche. Mein Vater missbilligte meine Einstellung. »Der Konsum ist die Religion des modernen Menschen!«, erklärte er barsch. Doch meine Unbeirrbarkeit nötigte ihm Respekt ab. Meine Mutter heuchelte Verständnis für meine Berufung, die ihrem Snobismus schmeichelte. In den achtziger Jahren war es schicker zu erzählen, dass sich der Sohn aufs Priesterseminar vorbereitete, als zu gestehen, dass er seine Zeit in Nachtklubs und auf Kokainpartys vertat.
Aber sie täuschten sich. Ich führte weder ein freudloses noch ein übermäßig sittenstrenges Dasein. Mein Glaube basierte auf Freude. Ich lebte in einer Welt des Lichts, einem riesigen Kirchenschiff, in dem ununterbrochen Tausende von Kerzen flackerten.
Ich begeisterte mich für meine lateinischen Kirchenväter. In ihrem Werk spiegelte sich die große Wende in der abendländischen Geschichte wider. Ich wollte die ungeheure Erschütterung durch das christliche Denken beschreiben, das in diametralem Gegensatz zu allem stand, was zuvor gesagt oder geschrieben worden war. Die Ankunft Christi auf Erden war ein spirituelles Wunder, aber auch eine philosophische Revolution. Eine physische Verwandlung – die Fleischwerdung Jesu – und eine Verwandlung des Wortes Gottes.
Ich stellte mir vor, wie fassungslos die Hebräer auf Seine Botschaft reagiert haben mussten. Das auserwählte Volk, das die Ankunft eines mächtigen, kriegerischen Messias auf einem flammenden Streitwagen erwartete und aus dessen Mitte plötzlich jemand hervortrat, der Mitleid und Nächstenliebe predigte und versicherte, dass jede Niederlage ein Sieg und alle Menschen auserwählt seien. Ich dachte auch an die Griechen und die Römer, die Götter nach ihrem Ebenbild erschaffen hatten, voller innerer Widersprüche, und die plötzlich erlebten, wie ein unsichtbarer Gott Menschengestalt annahm. Ein Gott, der die Menschen nicht vernichtete, sondern zu ihnen herabgestiegen war, um sie über alle Widersprüche zu erheben.
Diese bedeutsame Wende wollte ich beschreiben. Dieses gesegnete Zeitalter, in dem das Christentum eine langsam aus einem Klumpen Lehm herauswachsende Tonfigur auf einer Töpferscheibe, ein Kontinent in Bewegung war. Und die frühchristlichen Schriftsteller waren die treibende Kraft, das Spiegelbild und die Bürgen dieses Vorgangs. Nach den Evangelien und den Apostelbriefen traten säkulare Schriftsteller auf den Plan; sie sichteten, erläuterten und kommentierten das schier unendliche Material, das ihnen überlassen worden war.
Ich durchquerte den Innenhof des Instituts, als mir plötzlich jemand auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich um. Luc Soubeyras stand vor mir. Käseweißes Gesicht unter einem rötlichen Haarschopf; hagere Figur in einem viel zu weiten Dufflecoat, um den Hals ein Schal. Verblüfft fragte ich:
»Was treibst du denn hier?«
Er warf einen Blick auf die Immatrikulationsunterlagen, die er in Händen hielt.
»Das Gleiche wie du, nehme ich an.«
»Du willst promovieren?«
Er rückte seine Brille zurecht, ohne zu antworten. Ich stutzte ungläubig:
»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Seit wann haben wir uns nicht mehr gesehen? Seit dem Abitur?«
»Du warst zu deinen großbürgerlichen Wurzeln zurückgekehrt.«
»Unsinn. Ich habe immer wieder versucht, dich anzurufen. Was hast du gemacht?«
»Ich habe hier am Institut Catholique studiert.«
»Theologie?«
Er schlug die Hacken zusammen und stand stramm:
» Yes Sir! Und einen Magister in Altphilologie hab ich auch noch gemacht.«
»Wir haben also den gleichen Weg eingeschlagen.«
»Hast du das je bezweifelt?«
Ich antwortete nicht. Luc hatte sich in der letzten Zeit auf dem Kolleg in Saint-Michel verändert. Aus dem gläubigen Christen war ein Spötter geworden, der alles mit Ironie und Hohn überschüttete. Ich gab nicht mehr viel auf seine Berufung. Nachdem er mir eine Gauloise angeboten und sich ebenfalls eine angezündet hatte, fragte er:
»Worüber schreibst du?«
»Die frühen Kirchenväter. Tertullian, Cyprian
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