Das Herz der Puppe (German Edition)
einschlief, sagte sie: »Schade, dass er nicht in meine Schule geht, aber Wien ist, glaube ich, sehr, sehr weit weg.«
Als Nina schlief, hatte Widu endlich Ruhe, um über die Sache mit Flo nachzudenken. Was war das, was das Mädchen plötzlich so durcheinanderbrachte? Das war nicht nur bei Nina so, Widu erlebte die Aufregung bei allen Kindern, die sie über die Jahre begleitet hatte. Und warum hatte sie selbst so etwas noch nie erlebt? Es musste aufregend und schön zugleich sein, eine schöne Aufregung sozusagen, denn man sah ja, dass Nina am liebsten darin verweilen wollte. Widu selbst kannte das nicht. Brauchen die Menschen das womöglich, um zueinanderzufinden?, fragte sie sich. Fehlte ihnen vielleicht allen etwas, und sie suchten immer genau den Menschen, der dieses Etwas hatte? Es musste schön sein zu wissen, dass man bei jemand anderem etwas finden konnte, das man selbst nicht hatte. Für Puppen galt das nicht. Puppen waren perfekt. Ihnen fehlte nichts. Oder doch?, überlegte Widu. Wenn ihr nichts fehlte, warum war sie dann ein bisschen neidisch auf diesen sehr, sehr netten Flo? Plötzlich wünschte sich Widu, ihr würde auch etwas fehlen. Dann könnte sie dieselbe schöne Aufregung fühlen wie Nina mit ihrem Flo. Ein schönes gefühl muss das sein, dachte Widu. Sie seufzte leise, dann fielen ihr die Augen zu.
Am nächsten Morgen verkündete Nina beim Frühstück: »Der Flo wird Augen machen, wenn er meinen neuen Superzungenbrecher hört.«
»Und wie geht der?«, fragte die Mutter, während sie die Sonnencreme in die Strandtasche packte.
»Unter einer Fichtenwurzel hörte ich einen Wichtel furzen.«
Ninas Vater schaute über den Rand der Zeitung und lachte, dass die Zeitung nur so wackelte.
Widu brav und böse
Nina saß auf dem Balkon und aß ihr Brot . Es war ein sonniger Nachmittag gegen Ende der Schulferien. Ihre Mutter hatte Besuch, und Nina unterhielt sich mit Widu. Es war der Tag, an dem sie erfuhr, dass Widu noch mehr magische Fähigkeiten besaß, als sie dachte. Es fing damit an, dass Nina auf einem nahen Baum eine Elster entdeckte. Widu sah den Vogel an, und er nickte.
»Die Elster hat Ja gesagt, sie wird es für mich tun«, erklärte Widu.
» Was wird sie für dich tun?«, fragte Nina.
»Ich habe sie gefragt, ob sie für uns tanzt.
Nina wollte gerade entgegnen, dass sie kein Wort glaube, als die Elster anflog und einen Tanz aufführte, als befände sich gleich vor dem Balkon eine unsichtbare Bühne. Sie stieg senkrecht in den Himmel, stürzte dann bis auf die Höhe des Balkons herab, wirbelte dabei im Kreis herum und kam ihren beiden Zuschauerinnen so nah, dass Nina zum ersten Mal in ihrem Leben einem Vogel aus nächster Nähe in die Augen schauen konnte.
»Das reicht«, sagte Widu, und die Elster flog davon.
»Aber … wie machst du das?«, wollte Nina wissen.
»Ich spreche alle Tiersprachen, und ich kann mit der Elster so reden, als wäre ich der geist ihrer großmutter. Vögel tun alles, was ihnen ihre geister sagen. Wenn ich böse wäre, würde ich mit ihr sprechen, als wäre ich der geist eines Adlers, und der Elster würde vor Angst der Schnabel abfallen.«
Nina lachte. »Und kannst du auch wie ein Löwe mit einem Hund sprechen?«
»Selbstverständlich«, sagte Widu. »Aber lass uns lieber erst die Amsel dort unten auf dem Rasen retten. Da, im Nachbargarten! Siehst du die Katze? Jetzt pass auf …«
Widu sah die Amsel an, wie sie zuvor die Elster angesehen hatte, und der Vogel schaffte es in letzter Sekunde auf einen Apfelbaum. Von dort schimpfte er laut auf die Katze herunter, die schon zum Sprung angesetzt hatte.
»Uff, das war knapp!«, sagte Nina. »Aber ich habe gar nicht gehört, was du der Amsel gesagt hast.«
»Logisch. Weil die Tiere natürlich anders hören als ihr Menschen«, sagte Widu, und Nina sagte zwar nichts, aber sie fand, es klang ein wenig hochnäsig.
Nicht lange danach begleitete Nina Tante Olga zu ihrer Lieblingsfriseuse. Tante Olga musste zwei Tage auf Nina aufpassen, weil Ninas Vater zu einer wichtigen Tagung nach Berlin fuhr und ihre Mutter ihn begleiten wollte. Das Friseurgeschäft lag am Stadtpark.
»Dann kommst du auch gleich ein bisschen an die frische Luft«, sagte Tante Olga. Im gegensatz zu ihren Eltern liebte Tante Olga frische Luft, je frischer, desto besser. Nina war davon auch nicht so begeistert. Und an dem Tag war es richtig kalt.
»Mädchen, raus aus dem Muff!«, hatte Tante Olga fröhlich gerufen. »Wer rastet,
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