Die Prophezeiung
Grace Dossier
Brief von Mark de Vincenz an Professor Bishop
15. Oktober 2009
Professor Bishop,
schon viele Male habe ich diesen Brief formuliert, wenn auch nie mit dem festen Willen, ihn abzuschicken. Nun bin ich fest entschlossen und ich frage mich, ob es vielleicht schon zu spät ist. Sie haben vermutlich geglaubt, diese Notizen nie lesen zu müssen.
Nun. Es ist an der Zeit, Sie zu enttäuschen.
Jahrelang habe ich mich gegen die Erinnerung gewehrt, was auf dem Ghost geschehen ist. Aber am Ende lehrt mich die Erfahrung als Kriminalbeamter: Je heftiger wir versuchen, die Vergangenheit zu verdrängen, desto deutlicher schiebt sie sich ins Bewusstsein. Vor allem, wenn sie mit Schuld, Verzweiflung und Angst verbunden ist.
Seit ich erfahren habe, dass das College unter neuem Namen wiedereröffnet wurde, vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage: Wie konnte das geschehen?
War es Zufall, Schicksal oder wie Eliza sagte: Kismet? Glauben Sie mir, ich habe in den letzten Jahren oft den Tod gesehen. Aber nie wieder hat er mich so erschüttert.
Wollen Sie immer noch wissen, was dort oben geschehen ist? Soll ich es Ihnen erzählen? Ihnen Bericht erstatten, wie sich jeder von uns in diesem einen Moment verhalten hat, als es passierte?
Denn genau das hat Sie doch am meisten interessiert, oder? Nicht die Wahrheit, sondern die Lügengeschichten, die ein jeder von uns erfunden hat.
Oft frage ich mich, ob wir nicht alle von den gleichen quälenden Träumen heimgesucht werden. In meinen Träumen jedenfalls besuchen wir uns gegenseitig. Eliza im Tunnel; Paul, der den Eispickel in den Gletscher schlägt; Kathleens Lachen; Franks verrückte Ideen.
Deshalb bin ich zur Kriminalpolizei gegangen, habe bei der Aufklärung unzähliger Morde geholfen, habe die Täter hinter Gitter gebracht.
Ironie des Schicksals, hätte Paul gesagt.
Wie finden Sie das?
Sind Sie enttäuscht, dass Ihr Experiment misslungen ist?
Sind Sie enttäuscht, dass Sie nie auch nur einen Blick auf unsere Aufzeichnungen werfen konnten?
Nur so viel: Sie sind an einem sicheren Ort. Und ich hoffe, der Gedanke, dass sie irgendwo existieren, wird Sie weiterquälen. Aber wir haben damals geschworen, nie ein Wort über die Ereignisse zu verlieren.
Wir – das waren:
Milton Jones, Mi Su Eliza Chung, Paul Forster, Frank Carter, Kathleen Bellamy, Martha Flemings und natürlich Grace Morgan.
Erinnern Sie sich noch an Grace?
Mark de Vincenz
Kapitel 1
Demon Days.
Nein. Bloß nicht! Die Dämonen hatte sie gerade verjagt.
Katie schaltete auf den nächsten Song ihrer Wiedergabeliste.
Hope there’s someone von Antony and the Johnsons.
Okay, das war auch nicht besser.
Sie schob den Gedanken an Sebastien schnell zur Seite. Vermutlich gab es unendlich viele tragische Songs über Liebespaare. Nicht daran denken. Vorbei ist vorbei.
Sie starrte zur Steilwand hinüber, die in einiger Entfernung hinter dem Solomonfelsen aufragte. Den Winter über hatte Katie jede freie Minute im collegeeigenen Fitnessstudio verbracht. An den Geräten absolvierte sie jeweils zwei Runden à zwanzig Wiederholungen: Oberarmtraining, Bauchmuskeln, Waden, Unterschenkel, Rücken, Po. Sie war bestens gewappnet für die Klettersaison im Freien.
Katie drückte auf dem iPod herum, um doch wieder bei Robert Forster zu landen. War es Zufall, dass sie ihn mochte? Schließlich war der Name Forster hier oben Programm. Und die Dämonen führten sowieso ihr eigenes Leben, das wusste sie aus bitterer Erfahrung.
Die Musik klang in ihren Ohren.
The fingers of fate
Stretch out and take
Us to a night
Sie zog das Handy aus der Hosentasche. Es zeigte eine Liste von unbeantworteten Anrufen, die alle denselben Namen anzeigten. Warum meldete er sich nicht? Der Duke, wie Benjamin ihn damals, nachdem sie wieder am College waren, getauft hatte. Wenigstens eine SMS – ein Lebenszeichen – ein Standardsmiley. Aber nichts?
Sie steckte es zurück.
The half whispered hopes
The dreams that we smoked.
Katie streckte die Beine aus. Von ihrem Platz am Ufer des Lake Mirror hatte sie einen Wahnsinnsblick auf das Panorama. Es war vermutlich einer der klarsten Tage, die sie je hier oben erlebt hatte, mit einer Sicht, die ihr den Atem verschlug.
Der Schnee und die glitzernde Oberfläche des Spiegelsees reflektierten das Licht so stark, dass es in den Augen wehtat. Sie schob die Sonnenbrille nach unten und legte den Kopf zurück.
Auf den Berghängen und den Gipfeln rundherum lag noch meterhoch der Schnee – doch in
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