Zusammen ist man weniger allein
Philibert, der letzte Sproß eines verarmten Adelsgeschlechts, kann die Geschichte der französischen Könige im Schlaf hersagen, aber er stottert erbärmlich, wenn er vor einer jungen Frau steht. Er verkauft Postkarten in einem Museum und hütet vorübergehend eine riesige Wohnung voller alter Bilder und Möbel. Camille, belesen, künstlerisch begabt und dürr wie eine Bohnenstange, arbeitet nachts in einer Putzkolonne, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und Franck schuftet als Koch in einem Feinschmeckerlokal. Sein bißchen Freizeit braucht er für ein Mädchen, Motorräder und seine Großmutter Paulette, die sich wehrt, in ein Alten heim abgeschoben zu werden.
Vier grundverschiedene Menschen, die streiten können, daß die Fetzen fliegen. Und der Beginn einer wunderbaren Liebe, die ausgerechnet denen widerfährt, die sie um je den Preis verhindern wollten.
Anna Gavalda
Zusammen ist man
weniger allein
Roman
Aus dem Französischen
von Ina Kronenberger
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Titel
Ensemble, c'est tout bei Le Dilettante in Paris.
ISBN 3-446-20612-4
© Le Dilettante 2004
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München Wien 2005
Für Muguette
(1919–2003)
Angehörige nicht ermittelt
TEIL 1
1
Paulette Lestafier war nicht so verrückt, wie die Leute behaupteten. Natürlich wußte sie, wann welcher Tag war, sie hatte ja sonst nichts zu tun, als die Tage zu zählen, auf sie zu warten und wieder zu vergessen. Sie wußte sehr wohl, daß heute Mittwoch war. Außerdem war sie fertig! Hatte ihren Mantel übergezogen, ihren Korb gegriffen und ihre Rabattmärkchen zusammengesucht. Sie hatte sogar schon von weitem das Auto der Yvonne gehört. Aber dann stand die Katze vor der Tür, hatte Hunger, und als sie sich bückte, um ihr den Napf wieder hinzustellen, war sie gestürzt und mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe aufgeschlagen.
Paulette Lestafier fiel öfter hin, aber das war ihr Geheimnis. Das durfte sie nicht erzählen, niemandem.
»Niemandem, hörst du?« schärfte sie sich ein. »Weder Yvonne noch dem Arzt und schon gar nicht deinem Jungen …«
Sie mußte langsam wieder aufstehen, warten, bis die Gegenstände alle wieder normal aussahen, Jod auftragen und ihre verfluchten blauen Flecken abdecken.
Die blauen Flecken der Paulette waren nie blau. Sie waren gelb, grün oder hellviolett und lange sichtbar. Viel zu lange. Mehrere Monate bisweilen. Es war schwer, sie zu verstecken. Die Leute fragten sie, warum sie immer wie im tiefsten Winter herumlief, warum sie Strümpfe trug und nie die Strickjacke auszog.
Vor allem der Kleine ging ihr damit auf die Nerven:
»He, Omi? Was soll das? Zieh den Plunder aus, du gehst ja ein vor Hitze!«
Nein, Paulette Lestafier war überhaupt nicht verrückt. Sie wußte, daß ihr die riesigen blauen Flecken, die nicht mehr weggingen, einmal viel Ärger bereiten würden.
Sie wußte, wie alte, unnütze Frauen wie sie endeten. Die die Quecke im Gemüsegarten wuchern ließen und sich an den Möbeln festhielten, um nicht zu fallen. Die Alten, die den Faden nicht mehr durch das Nadelöhr bekamen und nicht mehr wußten, wie man den Fernseher lauter stellt. Die alle Knöpfe der Fernbedienung ausprobierten und am Ende heulend vor Wut den Stecker zogen.
Winzige, bittere Tränen.
Mit dem Kopf in den Händen vor einem stummen Fernseher.
Und dann? Nichts mehr? Keine Geräusche mehr in diesem Haus? Keine Stimmen? Nie mehr? Weil man angeblich die Farbe der Knöpfe vergessen hat? Dabei hat er dir farbige Etiketten aufgeklebt, der Kleine, er hat dir Etiketten aufgeklebt! Eins für die Programme, eins für die Lautstärke und eins für den Ausknopf! Komm schon, Paulette! Hör auf, so zu heulen, und sieh dir die Etiketten an!
Schimpft nicht mit mir, ihr. Sie sind schon lange nicht mehr da, die Etiketten. Sie haben sich fast sofort wieder gelöst. Seit Monaten suche ich den Knopf, weil ich nichts mehr höre, weil ich nur noch die Bilder sehe, die leise
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