Das Herz der Puppe (German Edition)
Schule?
Die lag vier Straßen weiter und war in einem schönen alten Haus untergebracht. Für viele Kinder dort war sie aber nicht »Nina«, sondern immer noch »die Neue«. Zwar fand sie sich allmählich zurecht und verstand sich mit ein paar Mädchen aus ihrer Klasse ganz gut, aber vieles an der Schule war ihr noch fremd. Und keins von den Mädchen lud sie zu sich ein. Vielleicht würden sie es ja irgendwann tun. Vielleicht musste Nina nur lange genug warten. Im Warten war sie gar nicht schlecht.
Aber ihre Straße war trotzdem schlimm. Die war wie leer gefegt von Kindern. Kein einziges Mädchen in ihrem Alter schien hier zu wohnen, noch nicht mal ein Junge. Irgendwie gab es hier nur Erwachsene und dazu die uralten Menschen aus dem nahen Altersheim. Und hier und dort ein Baby, jedenfalls sah man gelegentlich einen Kinderwagen.
Am Anfang hatte Nina nach einem gleichaltrigen Mädchen Ausschau gehalten, aber nach zwei Wochen hatte sie aufgegeben. Und dass sie Luisa und Julian jederzeit besuchen konnte, wie ihre Mutter ihr versprochen hatte, stimmte gar nicht. Erst ein einziges Mal war sie bisher bei Julian gewesen, da hatte er fest versprochen, sie auch zu besuchen, aber er war immer noch nicht gekommen. Und jedes Mal, wenn sie wieder zu ihm wollte, kam irgendetwas dazwischen. Mal war Vater mit dem Auto unterwegs, mal hatte die Mutter keine Zeit, und mal war Julian nicht zu Hause. Wenn dann endlich das Auto vor der Tür stand und alle Zeit hatten, wurde garantiert jemand krank.
Und Luisa? Ihre beste Freundin war nach Hamburg gezogen, weil ihre Mutter dort eine gute Arbeitsstelle gefunden hatte. Luisas Vater saß seit seinem Unfall im Rollstuhl. Am Anfang hatte Luisa jede Woche einen Brief geschrieben, und Nina hatte immer gleich geantwortet. Aber irgendwann waren keine Briefe mehr gekommen.
Ninas Mutter schien das alles nicht so ernst zu nehmen. Sie fand die gegend schön, und vor allem konnte sie ihre Arbeitsstelle in fünf Minuten erreichen. Sie war Steuerberaterin und arbeitete in einem großen Büro. Auch Ninas Vater war begeistert, dass er nicht mehr so viel mit dem Auto unterwegs sein musste. Er war Computerexperte bei einer großen Firma und konnte jetzt mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren. Die Haltestelle war nicht einmal fünfzig Meter vom Haus entfernt.
Dass Ninas Eltern mit ihrem neuen Zuhause zufrieden waren, war schön, aber Nina half es leider nicht.
»Na, da komme ich ja genau richtig«, sagte Widu, nachdem Nina ihr alles erzählt hatte. »Ich finde die gegend nämlich auch nicht gerade eine Augenweide. Ohne Kinder ist jede Straße eine Wüste. Aber jetzt bist du nicht mehr allein. Und weißt du was: Wenn wir schon in der Wüste wohnen, sind wir zwei Nomaden. Uns fehlt nur noch ein Kamel.«
»O nein, ein Trampeltier, das halte ich nicht aus!«, rief das Nilpferd, und Nina lachte und drückte Widu an sich. Sie drückte so fest, dass die Puppe das Herz ihrer neuen Freundin schlagen hörte. Es schlug erst schneller und beruhigte sich dann wieder. Widu erinnerte sich, dass das Klopfen der Brust der Kinder immer so laut und heftig wurde, wenn sie sich freuten und von etwas begeistert waren. Abends im Bett überlegte sie zum ersten Mal, wie sich das wohl anfühlte. Als ob man einen Trommler verschluckt hätte?
Warum Puppen nie
alt werden
»Wie alt bist du?«, fragte Nina, als Widu wieder einmal etwas ziemlich Kluges von sich gegeben hatte. Es war Schlafenszeit, und sie lagen schon im Bett.
»Wie alt?«, fragte Widu erstaunt zurück. »Was soll das heißen: wie alt ?«
Nina versuchte es ihrer Puppe zu erklären, aber die verstand es nicht.
»Ich bin nur einen Tag und eine Nacht alt«, sagte Widu schließlich. »Und das werde ich immer sein: einen Tag und eine Nacht. Wir Puppen sammeln Tage und Nächte, aber wir bewahren sie auf wie eine Erinnerung, einen Schatz. Schau, du besitzt Bücher und Spielzeug, Kleider und Schuhe. Sie gehören dir, und du bewahrst sie auf wie einen Schatz, aber sie machen dich keinen Tag älter. So ist es bei uns Puppen mit der Zeit: Sie ist ein Schatz, der uns nicht alt werden lässt.«
»Das ist ja toll. Dann möchte ich auch die Zeit sammeln und nicht alt werden«, sagte Nina.
»Das ist gar nicht toll«, widersprach Widu und schaute in die Ferne. »Wir bleiben für alle Zeiten so, wie wir geboren sind, aber dafür drehen wir uns immer nur im Kreis. Wir leben mit den Kindern, die mit uns spielen, und das ist schön. Aber irgendwann erreichen die Kinder, ohne
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