Ein wildes Herz
1. KAPITEL
T atsache ist: All unsere Erinnerung ist Fiktion. Das darf man nie vergessen. Natürlich gibt es Dinge, die wirklich und nachgewiesenermaßen geschehen sind, Dinge, die man bis auf den Tag, die Stunde, die Minute festmachen kann. Wenn man allerdings recht darüber nachdenkt, so sind das meistens Dinge, die anderen Leuten passieren.
Diese Geschichte ist wirklich passiert, und zwar ziemlich genau so, wie ich sie erzählen werde. Es ist eine wahre Geschichte, so wahr, wie sie eben nach sechs Jahrzehnten des Erinnerns und Erzählens sein kann. Die Zeit verändert Dinge, und manchmal trügt die Erinnerung. Zum Beispiel erinnert man sich deutlich an Einzelheiten wie eine Glocke oder das Wetter oder wie sich das Licht auf den Stromschnellen spiegelte, während die Sonne hinter den schwarzen Kiefern unterging, Dinge, die nicht einmal unbedingt etwas mit der Sache zu tun haben, während andere, möglicherweise sogar wichtige Details auf einmal von der Bildfläche verschwunden sind und nicht einmal mehr eine Form oder einen Klang haben. Und es sind die kleinen Dinge, die auf einmal wirklicher erscheinen als die großen.
Bis zum heutigen Tag fragen mich die Leute manchmal danach, wie es geschehen konnte, und was ich glaube,
warum, als wüsste ich das jetzt noch, nach all dieser Zeit, wo doch alles längst der Vergangenheit angehört, bis auf das Gerede und die Legende, die sich darum rankt – ich weiß nicht, wie man es sonst nennen soll. Jung bin ich nicht mehr, und so kann ich manchmal nicht mehr auseinanderhalten, an welche Dinge ich mich wirklich erinnere und was mir die Leute nur erzählt haben. Dann sagen sie mir, was ich alles getan habe, obwohl ich mich an vieles gar nicht mehr erinnern kann, aber die meisten Leute hier sind keine Lügner, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben, bis es mir so vorkommt, als könnte ich mich wirklich an die Dinge erinnern, die sie erzählen.
Manchmal, spät nachts, frage ich mich aber doch, was geschehen ist, wie das alles so gekommen ist, dieses Leben, das ich gelebt habe, Sie wissen schon, alles eben. Ich stelle mir die gleichen Fragen, die sie mir auch stellen, die Leute, die nur davon gehört haben, die nicht einmal dort waren, als das alles geschah. Was ist damals geschehen, und warum musste es so geschehen?
Ob ich einen Schaden davongetragen habe, wollen sie wissen, und ob es mich in irgendeiner Weise verletzt hat. Und ich sage immer, nein. Ich glaube nicht, dass ich einen Knacks davon bekommen habe. Doch verändert hat es mich schon, zutiefst und für immer verändert auf eine Weise, die mir von Tag zu Tag mehr bewusst wird. Jedenfalls ist es jetzt zu spät, um noch einmal die Uhren anzuhalten und jenen Stein wieder aus dem Fluss zu holen, den Stein, der den Lauf des Flusses veränderte.
So begann sie, diese Geschichte. Und sie begann hier, vor mehr als sechzig Jahren.
Damals war das hier eine Stadt, in der niemals ein Verbrechen begangen worden war. Natürlich hatte es so manches
Unglück gegeben, Scheunen hatten gebrannt, es gab Überschwemmungen, Hausbrände, schreckliche Krankheiten. So viele anständige junge Männer der Stadt waren nicht aus dem Krieg zurückgekommen, oder sie waren mit schweren Verwundungen aus Frankreich oder Deutschland heimgekehrt, krank an Körper und Seele, Männer, die scheu und ängstlich waren und bei jedem lauten Klirren oder Zischen in der Dunkelheit zusammenzuckten. Auch die Sünde gab es. Neid und Habgier und Begehrlichkeit und Stolz, es gab schrecklichen Stolz. Verbrechen jedoch gab es keine. Nicht in dieser Stadt.
Brownsburg, Virginia, war im Jahre 1948 eine der Städte, wie es sie in den Jahren nach dem Krieg eben gab. Diese schreckliche amerikanische Gier hatte noch nicht um sich gegriffen, die meisten Menschen lebten ein einfaches Leben, ohne sich nach Dingen zu sehnen, die sie nicht haben konnten. Der Krämerladen hatte Merita-Brot-Griffe anstelle von Türklinken, und drinnen gab es Speckseiten und große Laibe dünn aufgeschnittenes Brot und Dosengemüse und Mehl und Flanellhemden und Stoffballen und Kinozeitschriften für die Träumer, und für die Kinder Süßigkeiten zu einem Penny in großen Bonbongläsern auf dem Tresen. Cola-Flaschen und bunte Nehi-Brause-Flaschen lagerten in einer Metallwanne mit Eiswasser, und wenn man eine wollte, musste man sie sich durch einen Metallschlitz aus dem Eiswasser holen. Prickelbrause nannte meine Mutter das, und manchmal sagte sie zu meinem Vater:
Weitere Kostenlose Bücher