Das Herz der Puppe
Und er? Er interessierte sich nur für Nina und wollte die ganze Zeit auf ihren Schoß. Die Mädchen saßen am Tisch und unterhielten sich. Lulu war witzig. Sie lachte gern und mochte Widu vom ersten Augenblick an. Auch Widu fand Lulu sehr nett. Der Nachmittag verging schnell, und am Ende lud Lulu Nina zu sich ein.
»Wie fandest du Nunu?«, fragte Nina abends im Bett.
»Geht so«, sagte Widu. »Er sieht hübsch aus, aber er gehört zur gruppe der Drängler, die sich nicht zufriedengeben, bis man sie in den Mittelpunkt stellt. Sie können es nicht ertragen, wenn ein anderer als sie auf dem Schoß eines Kindes sitzt.«
Am nächsten Tag, einem Samstag, sollte Nina zum Frühstück zu Lulu kommen. Ihre Mutter sah ihr vom Balkon nach, bis sie über der Straße war. Lulu wartete schon an der Haustür, und ihre Mutter winkte vom Balkon aus Ninas Mutter zu.
Das Frühstück war lecker, und nach dem Frühstück spielte Lulu Klavier. Sie spielte sehr gut. Widu war ganz hingerissen von den flinken Fingern des Mädchens. »Fantastisch!!! Welche Eleganz!!!«, rief sie begeistert.
»Was meinst du, sollen wir die Puppen einfach miteinander spielen lassen?«, sagte Lulu, als sie den Klavierdeckel zuklappte.
Nina hörte keinen Widerspruch von Widu, also legten die Mädchen ihre Puppen nebeneinander mitten in das große Spielzeugdurcheinander, das in Lulus Zimmer den Boden bedeckte.
»Sagt deine Mutter nichts übers Aufräumen?«, fragte Nina vorsichtig.
»Nein, nie. Sie hat sich daran gewöhnt, und ich finde es so gemütlicher. Man muss Eltern nur richtig erziehen«, sagte Lulu und lachte frech.
»Meine Mama hält leider nicht so viel von gemütlichkeit. Alles muss an seinem Platz sein.«
Dann spielten die zwei im garten hinter dem Haus Federball, schaukelten auf der Schaukel am Apfelbaum und lachten die ganze Zeit so laut, dass ein paar Nachbarn demonstrativ die Fenster zuknallten. Darüber mussten die Mädchen nur noch lauter lachen.
Erst als es schon fast Zeit zum Mittagessen war, ging Nina mit Widu nach Hause.
Als sie aus dem Haus kam, sah sie ihre Mutter auf dem Balkon stehen und winken.
»Lulus Mutter hat sie angerufen«, erklärte Widu. Aber wie sie Nunu fand, erzählte sie nicht.
An dem Tag begann Nina ihre neue Straße schön zu finden. Manchmal öffnete Lulu drüben die Balkontür und spielte besonders laut Klavier. Sie wusste, dass sie damit auch Widu eine große Freude machte.
Zorn ist eine dumme Sache
Neuerdings nervte Widu Nina mit ihrem dauernden logisch .
Nina liebte Eis, Widu dagegen fand es nur klebrig.
»Bei dem vielen Zucker, der da drin ist – logisch!«
Nina liebte Katzen und Hunde, Widu mochte beide nicht. »Sie kratzen und beißen«, sagte sie, »und sie riechen auch noch aus dem Maul. Bei dem Zeug, das die fressen – logisch!«
Und wenn Nina zornig wurde, lachte Widu sie aus.
»Wer einen kühlen Kopf behält, der wird nicht zornig. Zorn wohnt im Herzen. Ich habe kein Herz, also werde ich nicht zornig – logisch!«
Auch ein Marienkäfer, den Nina bewunderte, war für Widu nur ein zu klein geratenes, wenn auch nützliches Raubtier.
»Logisch!«
»Wenn du noch einmal ›logisch‹ sagst«, drohte Nina, als Widu das Wort fünfmal kurz hintereinander verwendete, »dann steck ich dich in eine Kiste auf dem Dachboden – logisch?«
»Ja, log… ich meine, ja, ich verstehe«, erwiderte Widu nachdenklich.
In der Nacht lag Widu noch lange wach. Sie aß sich satt an der Angst, die Nina vor einem sonderbar hinkenden Wolf hatte, von dem sie träumte. Widu dachte nach. Sie hätte gerne gewusst, was die Menschen empfanden, wenn sie zornig waren. Das hatte sie nie herausfinden können. Sie empfand nie Zorn. Höchstens spielte sie mal die Zornige, wenn es nötig war. Bei den Menschen kam der Zorn offenbar von irgendwo aus dem Inneren, aber da hatte sie ja nichts, was zornig werden konnte. Babys und Kinder, Erwachsene und greise, Männer und Frauen konnten zornig werden, aber sie, die klügste Puppe der Welt, nicht. Wie konnte das sein? Warum war das so?
Was in der Dunkelheit faucht,
kratzt und schleicht
Als kleines Baby hatte Nina die Nacht gemocht, aber je älter sie wurde, desto größer wurde ihre Angst vor der Dunkelheit. Ihre Mutter fand das »vernünftig«, denn sie hatte selbst auch Angst im Dunkeln. Merkwürdig war, dass in Ninas Herz trotz allem die Neugier auf die Nacht bestehen blieb. Nur die Angst davor wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Deshalb brannte in Ninas Zimmer und draußen
Weitere Kostenlose Bücher