Das Herz der Puppe
Volk der Kinder und das Volk der Erwachsenen. Die Kinder sind Astronauten. Sie kommen von einem Planeten, der ihren Namen trägt: dem Kinderplaneten. Kein Astronom kann diesen Planeten finden, denn er ist unsichtbar. Das Leben auf diesem Planeten bleibt den Erwachsenen verborgen, denn sie glauben nur das, was sie messen und wiegen können. Das Leben dort ist aber nicht messbar, so wie Freude und Traurigkeit, Liebe und Hass nicht messbar sind. Oder hast du jemals ein Kilo Lachen gekauft? Oder eine Dose mit drei gramm geräucherter Liebe?«
Nina schüttelte lachend den Kopf.
»Wenn die Kinder sichtbar werden wollen, suchen sie den Bauch einer Mutter auf. Das ist die einzige Raumfähre, die sie auf die Erde bringen kann. Es ist eine lange Reise. Sie dauert neun Monate. Erst dann landen die Kinder auf der Erde.
Sie leben überall auf der Welt, aber sie kommen alle von ein und demselben Kinderplaneten und erkennen alle anderen Kinder als ihre Landsleute.
Sieh dir die Babys an: Mit ihren kleinen Händen und Augen sprechen sie noch die Sprache des Kinderplaneten. Aber schon bald fangen sie an, die Sprache der Erwachsenen zu sprechen. Sie sind so klug, dass sie alle Sprachen der Welt lernen können. Und sie benutzen sie, um sich mit den Erwachsenen zu verständigen, denn die verstehen die einfache Sprache des Kinderplaneten nicht, und es ist hoffnungslos, sie ihnen beibringen zu wollen. Eher kann man einem Kamel das Stricken und Häkeln beibringen.
Auf dem Kinderplaneten sind alle sehr weise, deshalb gehen die Kinder auch davon aus, dass alle wissen, dass der Vollmond und der Regenbogen nicht immer da sind.«
»Als ich drei oder vier Jahre alt war«, warf Nina an der Stelle ein, »wollte ich, dass mein Vater mich jede Nacht auf den Arm nahm und mit mir in den garten ging. Ich wollte die Sterne und die Nacht sehen. ›Nachtstern‹ hab ich dazu immer gesagt.«
»Ja, weil du ein Sternenmädchen bist«, sagte Widu. »Es gibt auch Sonnenkinder, die bei jedem Sonnenuntergang so sehr weinen, als würden sie von ihrer Mutter verlassen. Und die Erwachsenen verstehen das nicht. Ich allein kenne drei solche Kinder.«
»Die Sonne war mir egal, ich wollte lieber die glitzernden Sterne sehen«, erzählte Nina. »Mein Vater hat sich immer gewundert, warum ich vor Aufregung zittere, und mich fest an sich gedrückt. Jeden Abend hat er besorgt gefragt: ›Hast du Angst? Dann lass uns hineingehen‹, und ich hab immer geantwortet: ›Nur noch ein bisschen Nachtstern!‹ Mein Vater lacht noch heute darüber. Und komisch: Draußen in der Dunkelheit war er genauso aufgeregt wie ich, aber wenn er anderen Erwachsenen davon erzählt, lacht er nur über mich , über sich nicht.«
»Du hast recht, das ist komisch«, sagte Widu. »Aber die Erwachsenen sind überhaupt ein seltsames Volk. Sieh sie dir an, sie geben sich solche Mühe, ihren Kindern das Sprechen beizubringen, und sie freuen sich unglaublich, wenn das Kind ›Papa‹ oder ›Mama‹ sagen kann. Aber wenn ein Kind dann später viele schöne Sätze von sich gibt, wollen die Erwachsenen lieber, dass es schweigt.
Die Erwachsenen leben so, als würden sie nie sterben, und sie sterben, ohne gelebt zu haben. Sie strampeln sich ab, um geld zu verdienen, und geben das geld aus, um sich zu erholen. Sie denken dauernd und voller Sorgen an morgen und vergessen dabei, heute zu leben. Wenn das weise sein soll, fresse ich dreiunddreißig Besen.«
»Fressen? gibt’s was zu fressen?«, fragte das Nilpferd, das über Widus langer Rede schon fast eingenickt war.
Ein Mädchen zieht ein
Das glück kommt unangemeldet . Eines schönen Sommertages spielte Nina mit Widu auf dem Balkon, als ein großer Transporter vor dem Haus gegenüber anhielt. Nina beobachtete, wie eine Familie in die Wohnung im dritten Stock einzog. Seit über einem Monat hatte die Wohnung leer gestanden. Die alte Frau, die dort gewohnt hatte, war ins Altersheim gegangen.
Nina und Widu sahen zwei kräftige Männer, die Stück für Stück die Möbel hinauftrugen: Sofas, Stühle, Tische, Regale, Schränke, viele Kartons und ein Klavier. Eine Frau zeigte den Männern, wohin die Dinge gestellt werden sollten. Dann trat ein Mädchen auf den Balkon, schaute sich um und entdeckte Nina und Widu. Sie rannte in die Wohnung und kehrte bald mit einer eigenen Puppe zurück. Sie winkte mit der einen Hand und hob mit der anderen ihre Puppe hoch. Nina tat es ihr gleich und zeigte auf Widu. Da winkte das Mädchen, dass Nina zu ihr
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