Das Herz des Drachen
Eins
Der Regen hatte seit fast einer Stunde kaum nachgelassen.
Yoshio Nakadai kniete in einem Schuppen neben der Straße in der seiza -Position – Knie und Schienbeine auf der Erde, die Füße unter den Hinterbacken gekreuzt – und wartete, dass es aufhörte zu regnen. Der Unterstand war ausschließlich dafür gebaut worden, Reisende vor Regenschauern zu schützen. Der wiederkehrende Rhythmus des prasselnden Regens auf dem Dach half ihm, sich auf seine Meditation zu konzentrieren.
Eine Konzentration, die er in letzter Zeit nur schwer aufbringen konnte. Auch jetzt schien es nahezu unmöglich, seinen Geist zu leeren.
Einst hätte ein Samurai wie Nakadai Seppuku – rituellen Selbstmord – begangen, wenn die Besitztümer seines Herren erobert, dessen Ländereien eingenommen und er seines Titels enthoben worden wäre. Aber diese Tage lagen in der Vergangenheit. Keiner kannte mehr den Weg der Ehre. Der Kodex des Bushi war zu einem Ammenmärchen geworden, das man Kindern am Lagerfeuer erzählte und nicht wie damals ein Lebensstil.
Jetzt war Nakadai nur noch einer von vielen herrenlosen Ronin , die im Land umherzogen, in der Hoffnung, dass ihnen ihre Fähigkeiten das Überleben ermöglichten. Ein Jahr war vergangen, seit sein Herr in Edo in Ungnade gefallen war. Seitdem hatte Nakadai gegen Bezahlung Menschen und Karawanen mit seinem Schwert beschützt. Er hatte als Detektiv gearbeitet, als Schlichter einen Disput zwischen zwei Kaufleuten beigelegt und als Lehrer dem Sohn eines wohlhabenden Mannes beigebracht, sich selbst zu verteidigen.
Sein Ruf hatte ihm gute Dienste geleistet, besonders in den Städten nahe Edo. Anders als andere Ronin handelte Nakadai immer ehrenhaft. Er konnte gar nicht anders. Außerdem war es wahrscheinlicher, dass man ihn erneut anheuerte, wenn er seine Arbeit gewissenhaft und gut ausführte.
Obwohl es Nakadai gelungen war, genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, fehlte ihm die Befriedigung, nach der er sich sehnte. Hätte er tatsächlich Seppuku begangen, so wie die Tradition es verlangt, hätte er vielleicht Frieden gefunden. Aber sollte man aus Loyalität zu einem unehrenhaften Mann sterben?
Nakadai fühlte keine besondere Liebe zum Shogunat. Aber in diesem Fall hatten sie Recht daran getan, seinen Herren abzusetzen, der sich als Feigling und Dieb erwiesen hatte. Die Unehrenhaftigkeit lag bei seinem Herrn und nicht bei Nakadai.
Es gab keinen Grund für Leute seines Schlags, zu sterben.
Trotzdem verlangte es die Ehre von ihm. Er hatte den Lehnseid geschworen und die Tatsache, dass sein Herr dieser Ehre nicht wert war, änderte nichts daran, dass er sein Wort gegeben hatte.
Dieses Rätsel plagte ihn unentwegt. Sein Geist wollte sich nicht leeren.
Der Rhythmus des Regens wurde plötzlich von im Matsch platschenden Schritten unterbrochen.
Nakadai öffnete die Augen und spähte durch den trüben Regenschleier. Er sah einen kleinen Mann auf den Unterstand zulaufen. Sobald er angekommen war, wischte er sich vergebens den Regen aus dem Gesicht und von den Kleidern. Als er sich letztendlich in seinen durchweichten Zustand ergeben hatte, lachte der Neuankömmling und sprach:
„Seid gegrüßt, ich hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn ich den Schuppen mit Euch teile.“
„Natürlich nicht“, antwortete Nakadai leise. Dann schloss er erneut die Augen, in der Hoffnung, der Mann würde verstehen, dass er nicht gestört werden wollte.
Allerdings schien dies nicht der Fall zu sein.
„Ich habe eigentlich erwartet, dass der Regen bis jetzt weitergezogen wäre“, fuhr der Mann fort und steckte seinen Kopf unter der Ecke des Daches hervor. „Ich habe mir gesagt, ‚Cho, du musst nur noch eine Stunde bis zur nächsten Stadt gehen, du schaffst es, bevor der Regen zu stark wird.‘ Stattdessen wurde es ein richtiger Wolkenbruch!“ Der Mann, der sich Cho nannte, drehte sich wieder zu seinem Mitinsassen um und betrachtete ihn näher.
„Hey, Sie kommen mir bekannt vor.“
Nakadai seufzte und öffnete die Augen. Ganz sicher würde er keinen meditativen Zustand erreichen, solange diese Cho-Person anwesend war. Nicht, dass er etwa ohne ihn in diese Verlegenheit gekommen wäre.
Er stand auf und ging am Rande der Hütte entlang, um das Gefühl in seinen Beinen wiederzuerlangen. Der Raum war so klein, dass er den Neuankömmling mehr als einmal umrunden musste.
„Gehen Sie auch in die Stadt?“, fragte der Mann und folgte Nakadai mit den Blicken. „Ich glaube, Sie sind ein Ronin,
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