Das Herz ihrer Tochter
er mich an, und mir
wurden zwei Dinge klar: Erstens, er hatte panische Angst. Zweitens, er war
ungefähr so alt wie ich.
Dieser Doppelmörder, dieses Monster, sah aus wie der
Kapitän der Wasserballmannschaft, der letztes Semester neben mir im
Statistikseminar gesessen hatte. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Pizzaboten von
dem Italiener, wo die Pizzen so waren, wie ich sie am liebsten mochte: dünn und
knusprig. Er erinnerte mich sogar an den Jungen, den ich auf dem Weg zum
Gericht durch den Schnee hatte stapfen sehen, für den ich das Fenster
runtergekurbelt hatte, um ihn zu fragen, ob ich ihn ein Stück mitnehmen könne.
Anders ausgedrückt, er sah nicht so aus, wie ein Mörder meiner Vorstellung
nach aussehen würde, sollte mir je einer über den Weg laufen. Er hätte
irgendein x-beliebiger junger Mann Anfang zwanzig sein können. Ich hätte er
selbst sein können.
Bis auf einen entscheidenden Unterschied:
Er saß in Hand- und Fußschellen ein paar Meter von mir entfernt, und es war
meine Aufgabe zu entscheiden, ob er es verdiente weiterzuleben oder nicht.
Einen Monat später wusste ich, dass der
Dienst als Geschworener himmelweit von dem entfernt ist, was man aus Film und
Fernsehen kennt. Ständig ging es zwischen Gerichtssaal und Geschworenenzimmer
hin und her; das angelieferte Essen war mies; manche Anwälte hörten sich
furchtbar gern reden, und glauben Sie mir, nicht jede Staatsanwältin ist so
sexy wie die in Law & Order. Noch nach vier Wochen hatte ich beim Betreten dieses Gerichtssaales
das Gefühl, ohne Reiseführer in einem fremden Land anzukommen ... aber hier
konnte ich meine Unwissenheit nicht damit entschuldigen, Tourist zu sein. Man
erwartete von mir, dass ich die fremde Sprache fließend sprach.
Der erste Teil des Prozesses war
abgeschlossen: Wir hatten Bourne für schuldig befunden. Die Staatsanwaltschaft
hatte reichlich Beweise dafür vorgelegt, dass Kurt Nealon in Ausübung seines
Dienstes als Polizeibeamter bei dem Versuch erschossen worden war, Shay Bourne
festzunehmen, nachdem er ihn mit seiner Stieftochter überrascht hatte, deren
Unterwäsche in Bournes Tasche gefunden worden war. Als June Nealon, die bei
einer Ultraschalluntersuchung gewesen war, nach Hause kam, erwartete sie ein
Aufgebot an Rettungs- und Polizeifahrzeugen: Ihre Tochter war tot, ihr Mann
tödlich verletzt. Gegen die überwältigende Beweislast der Staatsanwaltschaft
hatte die Verteidigung keine Chance. Erschwerend kam hinzu, dass Bourne selbst
nicht in den Zeugenstand gerufen worden war, vielleicht aufgrund seiner
mangelhaften Ausdrucksfähigkeit... oder weil er nicht nur schuldig wie die
Sünde war, sondern auch weil sein eigener Verteidiger ihn für ein
unkalkulierbares Risiko hielt.
Jetzt waren wir kurz davor, den zweiten
Teil des Prozesses abzuschließen - die Festlegung des Strafmaßes -, genauer
gesagt, den Teil, der diesen Prozess von jedem anderen Mordprozeß im vergangenen
halben Jahrhundert in New Hampshire unterschied. Hatte Bourne, von dem wir nun
wußten, dass er der Täter war, die Todesstrafe verdient?
Dieser zweite Teil war sozusagen eine
aufs Wesentliche reduzierte Version des ersten Teils. Die Staatsanwaltschaft faßte
die Beweismittel noch einmal zusammen, dann erhielt die Verteidigung
Gelegenheit, Mitgefühl für einen Mörder zu wecken. Wir erfuhren, dass Bourne
von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht worden war. Dass er mit sechzehn
im Haus seiner Pflegeeltern einen Brand gelegt und dafür zwei Jahre im Jugendgefängnis
gesessen hatte. Er litt an einer unbehandelten bipolaren Störung, einer
zentral-auditiven Verarbeitungsstörung, einer Überempfindlichkeit gegenüber
Sinnesreizen, und er hatte Probleme mit dem Lesen und Schreiben.
Das alles erfuhren wir allerdings aus dem
Mund von Zeugen. Wieder einmal war es nicht Shay Bourne persönlich, der uns um
Gnade bat.
Jetzt war es Zeit für die
Schlussplädoyers, und ich sah, wie der Staatsanwalt seine gestreifte Krawatte
glatt strich und vortrat. Ein großer Unterschied zwischen einem herkömmlichen
Prozess und der Strafzumessungsphase in einem Prozess, in dem die Todesstrafe
beantragt wurde, besteht darin, wer das letzte Wort bekommt. Ich selbst hatte
keine Ahnung von so was, aber Maureen - eine reizende ältere Geschworene, die
ich liebend gern als Großmutter gehabt hätte - verpaßte nicht eine einzige
Folge von Law & Order und hatte quasi ein Jurastudium im Fernsehsessel absolviert. In den
meisten Prozessen kam die Staatsanwaltschaft
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