Stiller Tod: Thriller (German Edition)
KAPITEL 1
Später wird sich Vernon Saul fragen, was wohl passiert wäre, wenn sein linkes Bein – verkrüppelt von den zwei Kugeln, die seine Tage als Cop beendet hatten – sich nicht genau diesen Moment ausgesucht hätte, um ihm Ärger zu machen, wenn er seinen Hintern nicht auf den Felsen mit Blick auf den Privatstrand gepflanzt und nicht gesehen hätte, was er gesehen hatte. Es war Schicksal, ganz klar. Fortuna beugte sich runter und gab ihm einen dicken, fetten Kuss.
Er schwitzte, und die Haut juckte ihm unter der kugelsicheren Weste, die alle Wachleute von Sniper Security tragen mussten, als er sich über die Felsbrocken hievte und plötzlich einen stechenden Schmerz wie von einem Elektroschocker in der Kniekehle spürte, sodass er fast gestürzt wäre. Fluchend ließ er sich auf den Felsen nieder, um abzuwarten, bis der Schmerz nachließ, umhüllt von den langen dunklen Schatten der untergehenden Sonne.
Fünf Minuten später saß er immer noch da und massierte sich das nutzlose Bein, unsichtbar für die beiden Weißen am Strand vor dem protzigen Haus, dessen Glasfront das schlierige Blutorange des Himmels zurückwarf. Sie rauchten Gras – Vernon bekam einen Hauch in die Nase –, und hinter ihnen auf einem Tisch lagen die Hinterlassenschaften einer Kindergeburtstagsparty.
Der Schmerz ebbte ab, er wollte sich gerade wieder auf die Beine wuchten, als er das Mädchen sah, etwa vier oder fünf Jahre alt, das aus dem Haus gerannt kam. Die blonden Haare der Kleinen fingen das schwindende Licht ein. Sie lief zu den beiden Männern und zupfte ihrem Vater an den Badeshorts, der jedoch keine Notiz von ihr nahm, zu tief in seinem bekifften Gespräch versunken.
Das Mädchen ließ ihn stehen und sprang hinüber zu dem Spielzeugsegelboot, das im Wasser trieb. An der Stelle gab es eine Rückströmung, kabbelige Wellen, die ans Ufer liefen und Strudel bildeten, um sich dann entlang des steil vom Strand abfallenden Riffs schnell zurückzuziehen.
Die Kleine griff nach dem Boot, es schaukelte davon, trieb zu den Felsen auf der anderen Seite der kleinen Bucht, gegenüber von Vernons Sitzplatz. Sie drehte sich zu den Männern um und rief: »Daddy!«, aber die beiden standen mit dem Rücken zu ihr und hörten sie nicht.
Also lief sie zu den Felsen hinüber und kletterte auf sie drauf, folgte dem Segelboot. Höllisch glitschig diese Felsen, mit Strähnen aus Tang bedeckt, als hätte ein Kahlkopf versucht, seine Glatze zu kaschieren. Die Kleine bekam das Boot fast zu packen, doch im letzten Moment tanzte es von ihr weg, weshalb sie sich noch weiter vorlehnte. Sie reckte sich, berührte mit den Fingern beinahe den Mast. Da rutschte sie ab und landete im Wasser. In dem scheißkalten, eierschrumpfenden Wasser. Sie bekam Panik und strampelte wie wild herum.
Sie ging unter.
Vernon sah zu, wie sie wieder auftauchte, den Mund weit aufgerissen. Eine Welle schlug ihren Kopf gegen die Felsen. Sie verschwand und kam ein paar Sekunden nicht wieder hoch, nur eine Hand grapschte in die Luft. Das Wasser zog sie wieder nach unten.
Vernon stand auf, wollte die Männer alarmieren, die noch immer nicht gemerkt hatten, was sich da hinter ihnen abspielte – wollte hinrennen und den Helden spielen. Doch er hielt inne und duckte sich wieder, wie eine Eidechse im Schatten.
Erstmal sehen, was passiert, Bruder.
Mal sehen, was passiert.
KAPITEL 2
Am Geburtstag seiner Tochter wurde Nick Exley früh wach und konnte es kaum erwarten, mit ihr in sein Studio zu gehen. Zuerst musste er jedoch seiner Frau entwischen, die mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt neben ihm lag, als hätte sie aus großer Höhe einen Hechtsprung gemacht. Er schob sich aus dem Bett, ganz vorsichtig, um Caroline ja nicht zu wecken. Seine Sorge war unbegründet. Sie schnarchte, ausgeknockt von den Medikamenten, die sie, im optimistischen Jargon ihres Psychiaters, topfunktionstüchtig hielten.
Exley stieg in ein paar Surfshorts und zog sich ein T-Shirt über. Er nahm seine Brille von der Kommode, setzte sie auf die Nase, und sofort nahm das Schlafzimmer des gemieteten Hauses scharfe Konturen an: eine Studie in Braun- und Beigetönen, so unpersönlich wie eine Hotelsuite. Caroline, das Gesicht vom Schlaf zerfurcht, stöhnte, wurde aber nicht wach, ein Speichelbläschen dick wie eine Zecke im Mundwinkel.
Exley schlich aus dem Zimmer und schloss behutsam die Tür. Nur das ferne Raunen des Ozeans störte die Stille des Morgens. Er hob einen großen, fröhlich eingepackten
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