Das Herz ihrer Tochter
sondern
Lehrbücher. Sie schauen sich keine Nachrichten an, sondern Late-Night-Shows.
Aber dennoch schafft es die Welt da draußen, bruchstückweise durchzudringen: eine
Mutter, die ihre Kinder in ein Auto sperrte und es in einen See rollen ließ, um
sie zu ertränken; ein Mann, der seine Frau vor den Augen der Kinder im Streit
erschoß; ein Serienvergewaltiger, der eine Jugendliche einen Monat gefesselt
in einem Keller gefangen hielt und ihr dann die Kehle durchschnitt. Die Morde
an Kurt und Elizabeth Nealon waren furchtbar, klar - aber waren die anderen
weniger furchtbar?
Shay Bournes Verteidiger stand auf. »Sie
haben meinen Mandanten des zweifachen Mordes für schuldig befunden, und er
bestreitet die Tat nicht. Wir nehmen Ihren Schuldspruch an, wir respektieren
Ihr Urteil. Jetzt jedoch bittet die Staatsanwaltschaft Sie, diesen Fall - bei
dem es um den Tod von zwei Menschen geht - damit abzuschließen, dass Sie einem dritten
Menschen das Leben nehmen.«
Ich spürte, wie mir ein Schweißtropfen
zwischen den Schulterblättern hinunterlief.
»Durch den Tod von Shay Bourne wird sich
niemand sicherer fühlen. Selbst wenn Sie sich gegen seine Exekution
entscheiden, kommt er nicht auf freien Fuß. Er wird zu zweimal lebenslänglich
ohne Aussicht auf Bewährung verurteilt werden.« Er legte seine Hand auf Bournes
Schulter. »Sie haben erfahren, welche Kindheit Shay Bourne hatte. Wo hätte er
das lernen sollen, was Sie alle in Ihren Familien lernen konnten? Wo hätte er
lernen sollen, Richtig und Falsch zu unterscheiden, Gut und Böse? Ja, wo hätte
überhaupt etwas lernen sollen? Wer hätte ihm Gutenachtgeschichten vorlesen
sollen, wie Elizabeth Nealon sie von ihren Eltern vorgelesen bekam?«
Der Anwalt trat auf uns zu. »Sie haben
gehört, dass Shay Bourne eine bipolare Störung hat, die nicht behandelt wurde.
Sie haben gehört, dass er eine Lernschwäche hat, Aufgaben, die uns
leichtfallen, sind für ihn unglaublich frustrierend. Sie haben gehört, wie
schwer es ihm fällt, sich zu überwinden, seine Gedanken zu äußern. Das alles
hat mit dazu beigetragen, dass Shay furchtbare Dinge getan und schlechte
Einscheidungen getroffen hat - wie Sie selbst zweifelsfrei bestätigt haben.«
Er blickte uns nacheinander an. »Shay Bourne hat wahrhaftig schlechte
Entscheidungen getroffen«, sagte der Anwalt. »Aber machen Sie es nicht noch
schlimmer, indem auch Sie eine solche Entscheidung treffen.«
JUNE
Es lag in den Händen der Geschworenen.
Wieder einmal.
Es ist seltsam, die Gerechtigkeit zwölf
fremden Menschen in die Hände zu legen. Während der Strafzumessungsphase des
Prozesses hatte ich fast die ganze Zeit in ihre Gesichter geblickt. Es waren
einige Mütter dabei. Hin und wieder fing ich ihre Blicke auf und lächelte sie
an, wenn ich konnte. Ein paar von den Männern sahen aus, als wären sie beim
Militär gewesen. Und der Jüngste von ihnen sah aus, als wäre er kaum alt genug,
um sich schon zu rasieren, geschweige denn die richtige Entscheidung zu
treffen.
Ich wollte mich mit jedem Einzelnen von
ihnen zusammensetzen. Ich wollte ihnen den Brief zeigen, den Kurt mir nach
unserer ersten richtigen Verabredung geschrieben hatte. Ich wollte sie die
weiche Baumwollmütze anfassen lassen, die Elizabeth auf dem Weg von der
Entbindungsstation nach Hause aufgehabt hatte. Ich wollte ihnen die Nachricht
vorspielen, die sie beide mir auf den Anrufbeantworter gesprochen hatten und
die ich einfach nicht löschen konnte, obwohl es mir jedes Mal das Herz zerriß,
wenn ich sie hörte. Ich wollte sie mitnehmen und ihnen Elizabeth' Zimmer
zeigen, mit dem Schneewittchen-Nachtlicht und ihrer Verkleidungskiste. Ich
wollte sie das Gesicht in Kurts Kopfkissen drücken lassen, um seinen Duft
einzuatmen. Ich wollte, dass sie mein Leben lebten, weil sie nur so richtig
nachvollziehen könnten, was ich verloren hatte.
Am Abend nach den Schlussplädoyers
stillte ich Ciaire mitten in der Nacht und schlief dann mit ihr in den Armen
ein. Aber ich träumte, dass sie oben war, weit weg, und dass sie weinte. Ich
ging die Treppe hoch zum Kinderzimmer, wo es noch immer nach neuem Holz und
frischer Farbe roch, und öffnete die Tür. »Ich komme«, sagte ich, doch als ich
die Schwelle schon überschritten hatte, merkte ich, dass das Zimmer nie gebaut
worden war, dass ich gar kein Baby hatte, dass ich ins Bodenlose fiel.
MICHAEL
Zum Geschworenendienst werden nur
bestimmte Leute ausgewählt. Mütter mit kleinen Kindern, Steuerberater
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