Das Herz ihrer Tochter
mit ihrem Schlussplädoyer als
Letzte zu Wort... sodass einem ihre Worte noch in den Ohren klangen, wenn man
sich mit den übrigen Geschworenen zur Beratung zurückzog. Aber in einem
Prozess, in dem es um die Todesstrafe ging, sprach die Staatsanwaltschaft
zuerst, und dann hatte die Verteidigung eine letzte Chance, die Meinung der
Geschworenen zu ändern.
Schließlich ging es hier um Leben oder
Tod.
Der Staatsanwalt blieb vor der
Geschworenenbank stehen. »Es ist achtundfünfzig Jahre her, seit in New
Hampshire zuletzt ein Vertreter meines Amtes eine Jury bitten musste, eine so
schwere und ernste Entscheidung zu fällen wie die, die jetzt von Ihnen verlangt
wird. Eine solche Entscheidung trifft niemand leicht, aber es ist eine
Entscheidung, die der Faktenlage in diesem Fall angemessen ist, und es ist eine
Entscheidung, die gefällt werden muss, um dem Andenken an Kurt Nealon und
Elizabeth Nealon gerecht zu werden, deren Leben auf so brutale und abscheuliche
Weise ein Ende gesetzt wurde.«
Er nahm ein großformatiges Foto von
Elizabeth Nealon und hielt es direkt vor meiner Nase hoch. Elizabeth war eines
von diesen kleinen Mädchen gewesen, die mit ihren Fohlenbeinchen und
Mondscheinhaaren aussehen, als wären sie federleicht, die Sorte, bei der man
denkt, sie würden vom Klettergerüst schweben, wenn das Gewicht ihrer
Turnschuhe sie nicht dort halten würde. Aber dieses Foto war aufgenommen
worden, nachdem sie erschossen worden war. Blut war ihr ins Gesicht gespritzt
und hatte ihre Haare verklebt; die Augen waren noch weit geöffnet. Ihr Kleid
war im Fallen hochgerutscht und ließ erkennen, dass sie von der Hüfte abwärts
nackt war. »Elizabeth Nealon wird niemals Algebra lernen oder Reiten oder
Handstandüberschlag. Sie wird niemals zur Tanzschule gehen oder zum Highschoolabschlussball.
Sie wird niemals ihr erstes Paar hochhackige Schuhe anprobieren oder ihren
ersten Kuß bekommen. Sie wird ihrer Mutter niemals ihren ersten Freund
vorstellen. Sie wird niemals von ihrem Stiefvater zum Traualtar geführt
werden. Sie wird niemals ihre Schwester Ciaire kennenlernen. Sie wird all diese
Augenblicke und noch unzählige mehr verpassen - nicht wegen eines Autounfalls
oder einer Leukämieerkrankung, sondern weil Shay Bourne entschied, dass sie
nichts von all dem verdient hat.«
Dann zog er hinter dem Foto von Elizabeth
ein weiteres hervor und hielt es hoch. Die Kugel hatte Kurt Nealon in den
Bauch getroffen. Sein blaues Uniformhemd war lila von seinem und Elizabeth'
Blut. Im Laufe des Prozesses hatten wir gehört, dass er, als die Rettungssanitäter
bei ihm waren, Elizabeth nicht loslassen wollte, obwohl er selbst immer mehr
Blut verlor. »Shay Bourne hörte nicht auf, nachdem er Elizabeth getötet hatte.
Er tötete auch Kurt Nealon. Und damit nahm er nicht nur Ciaire den Vater und
June den Ehemann - er nahm auch der Polizei von Lynley den Kollegen Officer
Kurt Nealon. Er nahm dem Juniorenbaseballteam von Grafton County den Trainer.
Er riss den Gründer des Fahrradsicherheitstages an der Grundschule von Lynley
mitten aus dem Leben. Shay Bourne tötete einen Polizeibeamten, der nicht nur
versucht hatte, seine Tochter zu beschützen, sondern eine Bürgerin und eine
Gemeinde zu beschützen. Eine Gemeinde, der jeder Einzelne von Ihnen angehört.«
Der Staatsanwalt legte die Fotos mit der
Vorderseite nach unten auf den Tisch. »Es gibt einen Grund, warum die Todesstrafe
in New Hampshire seit achtundfünfzig Jahren nicht mehr verhängt wurde, Ladys
und Gentlemen. Weil nämlich trotz der vielen Fälle, die in all dieser Zeit an
unseren Gerichten verhandelt wurden, kein einziger Angeklagter diese Strafe
verdient hatte. Andererseits jedoch haben sich die rechtschaffenen Menschen
unseres Bundesstaates die Möglichkeit bewahrt, die Todesstrafe zu verhängen ...
statt sie aus dem Gesetz zu streichen, wie es so viele andere Staaten unseres
Landes getan haben. Und der Grund dafür sitzt heute in diesem Gerichtssaal.«
Meine Augen folgten dem Blick des
Staatsanwalts und verharrten auf Shay Bourne. »Wenn überhaupt je ein Fall in
der Geschichte unseres Staates förmlich danach geschrieen hat, dass die höchste
Strafe verhängt wird«, sagte der Anwalt, »dann dieser.«
Die Uni ist eine in sich geschlossene
Welt. Man besucht sie vier Jahre lang, und nicht wenige vergessen während
dieser Zeit, dass auch außerhalb von Seminararbeiten und Zwischenprüfungen und
Semesterpartys eine Welt existiert. Sie lesen keine Zeitung,
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